Als ich das Parlament betrat, das sehr voll war, hatte ich das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Alles war still und alle Augen waren auf mich gerichtet, und da sass ich nun allein. Ich war extrem erleichtert, als alles vorüber war & ich vom Thron hinabstieg … So dankbar, dass die grosse Tortur von heute endlich vorüber war & dass ich imstande war, sie durchzustehen.» 18
Die Presse liess sich die Gelegenheit nicht entgehen, die wachsende Unzufriedenheit der Öffentlichkeit über die Abschottung der Königin zum Ausdruck zu bringen, ja sie heizte diese Unzufriedenheit noch an. 1867 hatte die Verbitterung derart zugenommen, dass sich General Grey als Antwort auf die Bitte der Königin, er solle «auf den Schaden hinweisen», den Artikel wie ein jüngst in der Times erschienener anrichteten, 19gezwungen sah, ihr so behutsam wie möglich klarzumachen, dass sie ihre eigene Lage damit nur verschlimmere, so verständlich ihre Haltung sei:
«[…] seine Betrübnis hinsichtlich dieses Anlasses wird noch stark gesteigert durch das Gefühl, wie wenig er tun kann, um zu verhindern, dass sich das Ganze wiederholt. Doch wo ein Gefühl ganz allgemein & sehr stark ist, ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, zu verhindern, dass es zum Ausdruck kommt. General Grey würde Ihre Majestät nur täuschen & eine Wahrheit verheimlichen, deren sich Ihre Majestät bewusst sein muss, würde er nicht hinzufügen, dass es, wie unsinnig dieses Gefühl auch sein mag und was immer man von der Zeit oder Art, in der es ausgedrückt wird, oder über die gewählte Zeit, um es auszudrücken, denken mag, eine Tatsache ist, dass die Times in diesem Artikel lediglich dem Impuls von etwas gefolgt ist, das, wie General Grey vor sich selbst nicht verheimlichen kann, ein sehr allgemeines & sehr starkes Gefühl ist. […] Die Leute haben, ganz allgemein, das Gefühl, dass sich der Ton der Gesellschaft sehr verschlimmert hat & dass er, wenn seiner voranschreitenden Tendenz nicht irgendwie Einhalt geboten wird, noch schlimmer werden wird & dass dies sehr ernsthafte Folgen haben könnte. Die Leute glauben, dass Ihre Majestät die einzige Person ist, die die Macht besitzt, diesem Zustand auf wirkungsvolle Weise Einhalt zu gebieten, & dass dies nur dadurch möglich ist, dass Ihre Majestät wieder den Platz einnimmt, den niemand ausser Ihrer Majestät auszufüllen vermag.» 20
Dies also ist der Hintergrund, vor dem die Königin in grösster Heimlichkeit den Plan schmiedete, in die Schweiz zu fliehen. Im Sommer und Herbst 1867 pflegte sie eine lebhafte Korrespondenz mit Howard Elphinstone, dem Erzieher Prinz Arthurs, in der es um die Frage ging, wo sie den nächsten Sommer verbringen sollte. Anfangs spielte sie noch, wie wir oben gesehen haben, mit der Idee, nach Tirol in Österreich zu reisen, 21gab diese Pläne jedoch auf, als sie hörte, wie weit entfernt das fragliche Haus lag, wie lange die Reise sein würde, um dorthin zu gelangen, und wie extrem heiss es in diesem Tal werden konnte. Ein Eintrag in ihrem Tagebuch von Anfang August legt nahe, dass sie sich noch immer beinahe schuldig fühlte, sich in ihrem Witwenstand auf diese Weise aus dem Staub zu machen. Immerhin konnte sie ihren Drang nach Abgeschiedenheit rechtfertigen, indem sie auf ärztliche Anweisungen verwies. Zudem konnte sie sich ihres Schuldgefühls bei der Vorstellung entledigen, dass sie sich in jene Gegend begab, in der Prinz Albert 1837 gewesen war:
«Hatte ein langes Gespräch mit Maj. Elphinstone über einen geplanten Besuch in der Schweiz (so Gott will!) nächstes Jahr, den ich Dr. Jenner zufolge meiner Gesundheit zuliebe unbedingt in die Tat umsetzen sollte, auch wenn es schrecklich ist, irgendetwas ohne meinen geliebten Albert zu tun. Dennoch sehne ich mich danach, eine schöne Landschaft zu sehen & Maj. Elphinstone macht sich freundlicherweise auf den Weg, um zu versuchen, ein nettes Reiseziel für mich zu finden.» 22
Elphinstone schlug einige mögliche Orte in der Schweiz vor, worauf die Königin Ende August mit einer sehr klaren Vorgabe antwortete:
«Die Temperatur der Orte, die Major Elphinstone erwähnt, wäre in der Tat für die Königin völlig ungeeignet. Falls sie keine kräftigende Luft finden kann, würde sie überhaupt nicht daran denken, in die Schweiz zu gehen. Natürlich würde sie heisse Sonne und heisse Tage in Kauf nehmen, aber es müsste gleichwohl ausserdem frische & kalte Luft geben.
Sie würde mit einigen kleinen Häusern vorliebnehmen, vorausgesetzt, nur sie & ihre Kinder – Dienstmädchen & 2 oder 3 Diener wohnten in dem einen, und die Hofdamen & Kammerherren wohnten in dem anderen & so weiter. Das wäre völlig in Ordnung – ja, das wäre ihr am liebsten – & die Ausgaben für die Durchführung irgendwelcher erforderlichen kleinen Änderungen würde sie übernehmen. Mögen wir lediglich einen ruhigen Fleck in einer echten Berglandschaft finden mit guter, kräftigender! Luft.» 23
Die Königin schloss diesen Brief, indem sie die Hoffnung äusserte, dass das Geheimnis gewahrt würde. Einige Tage später fügte sie ihrer Vorgabe noch Folgendes hinzu:
«Die Königin dankt Major Elphinstone für alle seine Briefe & all die grosse & freundliche Mühe, die er auf sich genommen hat, um ihre Wünsche zu erfüllen. … Sie ist äusserst gespannt, von ihm alles über die Möglichkeiten zu erfahren, die sich ihr bieten, in die Schweiz zu gehen. Doch später als Anfang August könnte sie nicht dorthin gehen – und sie wünscht, nicht länger als bis zum 10. oder 12. September dort zu bleiben. Es würde sie sonst daran hindern, genug von der kräftigenden Luft der Highlands abzubekommen. Sie wünscht, 6 Wochen von letzterer zu haben.» 24
Elphinstone unternahm eine Erkundungsreise in die Schweiz und erstattete im Oktober pflichtgemäss Bericht in Form eines Memorandums, das Beschreibungen zweier möglicherweise geeigneter Häuser am Vierwaldstättersee enthielt.
«Er bedauert freilich, keine weiteren Details zur Verfügung stellen zu können. – Es war unmöglich, […] diese in Erfahrung zu bringen, da es sich bei beiden Häusern um private Wohnsitze handelt, sodass es nicht möglich war, sich Zutritt zu diesen zu verschaffen, ohne den Zweck des Besuches preiszugeben.» 25
Die Idee des Privathauses wurde fallengelassen, nicht aber der Ort. Obwohl Elphinstone, ein gewissenhafter Hofbeamter, sich nicht weiter vorwagte als bis zu der Bemerkung «Ihre Majestät ist sich jetzt bis zu einem gewissen Grade darüber schlüssig geworden, wo Sie zu wohnen gedenkt», 26hatte die Königin inzwischen die Zentralschweiz fest ins Visier genommen und verfolgte dieses Ziel bis August 1868 mit äusserster Entschlossenheit, ungeachtet all der Hindernisse, die sich ihr in der ersten Hälfte dieses Jahres in den Weg stellen sollten. Diese Hindernisse waren beträchtlich. Es gab dramatische politische Entwicklungen, die die Anwesenheit der Monarchin am Sitz der Regierung erforderten, und die Presse begann unangenehm zu werden. Die konservative Regierung stellte im Unterhaus nur eine Minderheit, der gesundheitlich angeschlagene Premierminister Lord Derby trat im Februar zurück (und starb im Jahr darauf), und das ganze Jahr über drohte die Aussicht auf eine Parlamentswahl. Dies nahm der Königin jegliche Gewissheit, dass sie den einzigen Glücksfall – sprich ein kongenialer Premierminister in Gestalt Benjamin Disraelis, der als vormaliger Schatzkanzler die Nachfolge Lord Derbys angetreten hatte –, den ihr das Schicksal in vielen Jahren gewährt hatte, noch lange würde geniessen können. Disraeli wusste, wie wertvoll General Grey als freimütiger und furchtloser Berater war, und als Grey zu verzweifeln begann und sich fragte, ob es ihm je gelingen würde, die Königin davon zu überzeugen, häufiger in der Öffentlichkeit aufzutreten, schrieb Disraeli ihm und flehte ihn an, weiterzumachen.
«[…] Nachdem wir den Prinzen verloren hatten, was mir zunächst wie ein Schlag erschien, der die Ausübung der öffentlichen Angelegenheiten fast unmöglich machte, habe ich Sie stets als das wichtigste Instrument angesehen, mittels dessen sich der Umgang mit der Öffentlichkeit zur Zufriedenheit der einzelnen Minister und zum Vorteil des Staates fortführen lässt. Es scheint mir beinahe ein Akt der Vorsehung zu sein, dass die Entwicklung des privaten Vertrauens der Königin einem echten Gentleman gilt, einem ehrenwerten, intelligenten, verdienstvollen Mann, der überdies über eine nicht geringe und zwar insbesondere über politische Lebenserfahrung verfügt. Ich würde es ausserordentlich bedauern und als grosses Unglück empfinden, wenn Sie aus den Diensten Ihrer Majestät ausscheiden würden.» 27
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