«[…] sie kann nicht leugnen, dass er ihre wichtigste Stütze ist und dass sie sich, wenn er abwesend ist, stets besonders ängstlich fühlt. Im Augenblick macht sie sich keine Sorgen & ist ruhiger; doch ihr ständiger & immer stärker zunehmender Kummer, der zu einem schrecklich nervösen Temperament noch hinzukommt (& das ihr teurer Gatte nur zu gut kannte & der allzu häufig unter ihren Ängsten leiden musste, welche er aber natürlicherweise beschwichtigen konnte, da sie ihm zu jeder Tages- & Nachtzeit alles anvertrauen konnte), hindert sie, irgendetwas gelassen aufzunehmen.» 5
Dass die Queen General Grey ins Vertrauen zog und mit ihm über ihre Reisepläne sprach, überrascht nicht angesichts ihrer fortwährenden Sehnsucht nach einer Vaterfigur und einer männlichen Schulter, an die sie sich anlehnen konnte. So erzählte sie Grey etwa von ihrer Absicht, 1863 drei Wochen in Coburg zu verbringen, dem Familiensitz Prinz Alberts in Deutschland (im damaligen Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha), einem Ort, dem sie sich sehr verbunden fühlte. Sich dorthin zu begeben, sei ihr ein Bedürfnis, schrieb sie an General Grey,
«[…] da sie es fast als Pflicht empfindet, etwas für ihre erbärmliche Gesundheit & Nerven zu tun, damit ihre Depression & Erschöpfung nicht noch weiter zunehmen.
Weiss Gott, dass sie, ginge es nur nach ihrem eigenen Willen, nichts für ihre Gesundheit täte, da es ihr einziger Wunsch ist, dass ihr Leben bald enden möge. Aber sie spürt, dass sie, wenn sie denn weitermachen muss, ab und zu einen kompletten Tapetenwechsel vornehmen muss (falls sie dies nicht an der Ausübung ihrer Pflichten hindert & sie hofft, dass es dies nicht tut). Folglich muss sie im Frühjahr für zwei oder drei Wochen nach Balmoral & im Sommer für 3 Wochen nach Coburg (nur nach Coburg) gehen, einmal abgesehen von einem Besuch bei ihrem lieben Onkel in Brüssel, der eine Pflicht & absolut notwendig ist.
Ihr Geliebter Engel würde nichts dagegen einzuwenden haben, dass sie diesen zusätzlichen Ortswechsel vornimmt, wenn man ihn fragen würde & er sähe, wie schwach & angst- und gramgebeugt sie ist – und dass das immer weiter zunimmt.» 6
Das Umfeld der Königin wusste nur zu gut, was der eigentliche Grund der Probleme war. In diesem Sommer schrieb Grey aus Coburg an Sir Charles Phipps, einen zuverlässigen Hofbeamten und Hüter der königlichen Privatschatulle:
«Ich hatte in der Zwischenzeit ein langes Gespräch mit Prinzessin Alice [Königin Victorias zweiter Tochter, der späteren Grossherzogin von Hessen-Darmstadt]. Sie sagt, es gehe der Königin sehr gut. Sie habe das 18 Teilnehmer zählende Mittagessen für den österreichischen Kaiser hervorragend bewältigt, viel gesprochen & sei auch noch zum Fenster gelaufen, um ihn wegfahren zu sehen. Prinzessin Alice sagt auch, die Königin habe ihr anvertraut, sie habe Angst, es könnte ihr zu gut gehen, als ob das ein Verbrechen sei & dass sie befürchte, es könne anfangen, ihr Spass zu machen, auf ihrem schottischen Pony zu reiten usw. usf. Sie ist so liebenswürdig & anrührend in ihrer Art, dass es einem schwerfällt, sie zu etwas zu drängen, das sie nicht mag. Doch nach dem nächsten Jahrestag müssen wir alle, ganz behutsam, versuchen, sie dazu zu veranlassen, wieder ihre alten Gewohnheiten aufzunehmen.» 7
«… dieses Gefühl anhaltender Trostlosigkeit», Königin Victoria an Kronprinzessin Victoria, 3. September 1867.
Doch das war leichter gesagt als getan und sollte noch eine ganze Weile dauern. Zwar unternahm die Königin vereinzelt Reisen, doch einige Jahre lang wagte sie sich nicht über die ihr vertrauten und sie beruhigenden eigenen Residenzen und die ihrer nächsten Familie im Ausland hinaus. Eine davon war das Sommerhaus Rosenau bei Coburg, in dem Prinz Albert zur Welt gekommen war. Aber so friedlich dieses Haus auch sein mochte – es befanden sich immer viele Leute dort. Als Königin Victoria sich im August 1865 auf der Suche nach Frieden und Ruhe dort aufhielt, kam ihr eine Idee, die sie nicht mehr losliess und die sie drei Jahre später in die Tat umsetzen sollte.
Sie hielt diese sofort in einer kurzen Notiz für General Grey fest:
«28. August 1865. Die Königin hat das Gefühl, dass sie eines Tages versuchen muss, 4 Wochen an einem völlig ruhigen Fleck in der Schweiz zu verbringen, wo sie alle Besucher abweisen und völlige Ruhe haben kann. Während der ersten Woche hier spürte sie den Vorzug der Ruhe, doch seit letztem Dienstag gab es keine einzige Unterbrechung mehr. Seit Montag wurde sie von der Zahl der Besucher und Verwandten völlig überwältigt, sodass sie es bedauert, nicht 3 oder 4 Tage länger hier zu bleiben, um sich vor Antritt der Reise zu erholen. Im Ernst meint sie, dass sie, falls sie im nächsten Jahr noch leben sollte (und, ach!, sie muss weiterleben), versuchen muss, völlige Ruhe zu finden, denn sie spürt, dass sie mit ihren Nerven und Kräften allmählich am Ende ist. Sie hat mit Kanné gesprochen [dem Direktor für Reisen auf dem Kontinent] und auch mit Major Elphinstone [dem Erzieher ihres Sohnes, Prinz Arthur], doch sie wünschte, dass auch der General mit ihnen spricht, denn die Königin möchte, dass man einen ganz friedlichen Fleck in einem schönen Teil der Schweiz findet, den sie ohne eine allzu lange Reise erreichen kann. Sie möchte nicht in der Schweiz herumreisen oder sehr ermüdende Dinge sehen, denn ihre Kraft und ihre Nerven würden das nicht aushalten. Sie würde mit einer kleinen Gesellschaft reisen, keine Pferde mitnehmen, aber vielleicht 2 Ponys, um selbst zu reiten, und sie möchte auf möglichst zurückgezogene Weise wohnen. General Grey wird das begreifen, da er ihre Streifzüge durch die Highlands kennt, doch sie fürchtet, dass dies bei Kanné eher nicht der Fall sein wird. Er wird dann der Meinung sein, dass die Königin in Darmstadt übernachten müsse, und dann noch zweimal, mit einem Ruhetag dazwischen! … Die Königin verspürt ein wirkliches Verlangen, es auszuprobieren.» 8
Dieses Verlangen hielt an und wurde immer stärker. Die Königin fand zusehends Gefallen an der Idee und fing an, General Grey mit einer Fülle in rascher Folge verfasster Notizen zu bombardieren. In den ersten beiden Notizen vom darauffolgenden Tag teilte sie ihm mit, sie habe während einer Ausfahrt mit dem Vorreiter Trapp gesprochen und dieser habe ihr gegenüber ein Haus namens «Riss» in Tirol in Österreich erwähnt, das sich eignen könnte.
«Es gibt dort ringsherum die grossartigste Alpenlandschaft und völlige Einsamkeit. Die Königin würde die Schweiz bevorzugen, da der Prinz das Land kannte und sie lieber nichts sehen möchte, was er nicht gesehen hat. Da aber andererseits völlige Ruhe und Einsamkeit der Hauptzweck der Reise sind, liesse sich dieser am besten im ‹Riss› erreichen. Ein Teil des Gefolges würde in der nächstgelegenen Stadt bleiben.» 9
Später am selben Tag kam ihr noch ein Gedanke, und sie schrieb an Grey, sie wünsche, dass er
«[…] sich nicht davon abschrecken lassen soll, wenn er hört, wie klein die Unterkunft, wie gross die Entfernung zur Stadt und wie schwierig es sei, im ‹Riss› Lebensmittel zu beschaffen.
Die Königin könnte und würde mit den schlichtesten Speisen und Lebensmitteln vorliebnehmen. Sie würde ihre Mahlzeiten (ausser vielleicht das Frühstück und das Mittagessen) mit ihrem ganz kleinen Gefolge einnehmen. Ausser ihren Kindern würde sie lediglich einen Kammerherrn und 1 Hofdame & einen Arzt- & ganz wenige Diener mitnehmen. Kurzum, sie würde sich mit dem Nötigsten begnügen und nur diejenigen Diener mitnehmen, die wirklich unerlässlich sind. Die Königin hat Berechnungen angestellt & ob wir in einer Nacht und einem Tag von hier dorthin fahren können. … Die Königin meint, wir könnten es leicht schaffen, von Antwerpen ohne Unterbrechung hierherzukommen. Wir sind ja bewusst langsam in Antwerpen und Darmstadt losgefahren & sind sehr spät aufgebrochen. Wenn wir 3 oder 4 Stunden früher aufbrechen & hier 2 Stunden später ankommen & ein bisschen schneller fahren, können wir das leicht schaffen.» 10
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