Die Fortschritte waren tatsächlich einschneidend. Zum Beispiel: Die landwirtschaftlich geprägte Welt des frühen 19. Jahrhunderts, in der sich noch Kutschen im behäbigen Tempo von 10 Meilen pro Stunde fortbewegten, wurde 1829 mit George Stephensons «Rocket», der Lokomotive, die es auf 28 Meilen pro Stunde (45 km/h) brachte, hinweggefegt. Dieses Fahrzeug war schneller als jedes andere Transportmittel zuvor in der Menschheitsgeschichte.
Doch der Fortschritt hatte seinen Preis – für die Menschen und für die Umwelt. Die Königin war schockiert von den Bedingungen, unter denen Menschen, selbst Kinder, in den berühmt-berüchtigten «finsteren satanischen Mühlen» schuften mussten, und die Landschaft wurde durch die, so Dickens, lilafarbenen Flüsse aus übelriechenden Färbemitteln massiv in Mitleidenschaft gezogen. London wuchs und wuchs und wurde zu dem, was John Ruskin die «grosse stinkende Stadt London» nannte, in der sich aufgrund der unzureichenden Abwasserbeseitigung Seuchen ausbreiteten. Doch der auf die Zukunft gerichtete Erfindungsgeist des Zeitalters zeigte sich der Herausforderung gewachsen. Ab der Jahrhundertmitte wurden in der rasch wachsenden Stadt auf einer Strecke von über 100 Kilometern Kanalisationsröhren verlegt (die bis heute teilweise noch in Betrieb sind).
Der Krimkrieg Mitte der 1850er-Jahre brachte die mitfühlende Seite der Queen zum Vorschein, denn sie unterstützte Florence Nightingale und ihre Bemühungen, das Leiden der im Krieg Verwundeten zu lindern. Die Königin schrieb ihr: «Wie sehr ich Ihren Einsatz bewundere, der völlig demjenigen meiner lieben und tapferen Soldaten entspricht, deren Leiden zu lindern Sie auf derart barmherzige Weise das Privileg hatten.» Spürt man hier einen Hauch von Protofeminismus? Auch bei vielen anderen Gelegenheiten, in denen sie sich für die Unterprivilegierten, ob Mensch oder Tier einsetzte, stellte die Königin ihr Mitleid unter Beweis. Sie brachte ihre Ablehnung von Tierversuchen unmissverständlich zum Ausdruck und war besonders beunruhigt davon, dass man «Studenten ermutigte, mit stummen Geschöpfen zu experimentieren».
1861–1872 DER VERLUST ALBERTS, DES PRINZGEMAHLS, UND ZEHN JAHRE TIEFER TRAUER
Der Tod Prinz Alberts, der im Dezember 1861 mit nur 42 Jahren starb, war ein tragischer Schicksalsschlag für Victoria. Bei einem Besuch in Cambridge, wo er dem fehlgeleiteten Edward, Prinz von Wales, die Leviten lesen wollte, erkrankte Albert, wie man lange meinte, an Typhus; vermutlich handelte es sich aber eher um Morbus Crohn. Von da an sah die Königin in Edward immer die indirekte Ursache für Alberts allzu frühen Tod. Dieser dritte Wendepunkt im Leben der Königin war ein Schicksalsschlag, von dem sie sich, wenn überhaupt, immer nur partiell erholte und nie so sehr, dass sie ihre schwarze Kleidung abgelegt und das entsprechende Umfeld verlassen hätte. Sie war zutiefst erschüttert; von der extrovertierten, lebensfrohen Königin war nichts mehr übrig.
Nachdem sämtliche Bemühungen, die Königin aus der Versenkung in ihre private Trauer ins Leben zurückzuholen, gescheitert waren, unternahm man einen anderen Versuch, sie wieder auf die Beine zu bringen, indem man ihren langjährigen Diener John Brown aus Balmoral, ihrem schottischen Rückzugsort, kommen liess, damit dieser bei Ausritten ihr Pony führte. Damit war noch nicht viel erreicht, doch es half, und mit der Zeit wurde Brown zu ihrem unverzichtbaren Kammerdiener, auf den sie sich stützte, um sich immer sicher zu fühlen. Es gibt keinen unumstösslichen Beweis für eine körperliche Beziehung. Auch in ihrem Tagebuch finden sich nur Ausdrücke ihrer Wertschätzung für ihn, wie etwa «mein Freund und loyalster Diener» oder «der aufrichtige Brown», und nicht mehr. Ihr ganzes Leben lang neigte die Königin dazu, lieber auf der Seite einfacher Menschen ohne Privilegien zu stehen, in deren Gesellschaft sie sich wohler fühlte als bei den oft arroganten Reichen und Mächtigen.
Anfang 1868 war es bereits einige Jahre her, dass Königin Victoria begonnen hatte, Pläne zu schmieden, zur Erinnerung an Albert in die Schweiz zu reisen und dort von der kräftigenden Luft der Berge zu profitieren. Doch die Hindernisse wurden immer grösser. Ein neuer Premierminister kam ins Amt und die parlamentarischen Auseinandersetzungen nahmen so sehr zu, dass Neuwahlen angesetzt wurden und der Sturz der Regierung wahrscheinlich wurde. Auch die öffentliche Kritik an ihrer zurückgezogenen Lebensweise ausserhalb Londons ebbte nicht ab. Trotz dieser massiven Stolpersteine gelang es ihr schliesslich, ihren Urlaub in der Schweiz anzutreten, wovon in den folgenden Kapiteln die Rede sein wird.
Und wie nicht anders zu erwarten, führte die anberaumte Wahl kurz nach ihrer Rückkehr dazu, dass sie sich gezwungen sah, das Rücktrittsgesuch des sympathischen Premierministers Benjamin Disraeli zugunsten William Gladstones anzunehmen. In seinen Audienzen mit der Königin dozierte Gladstone, als handle es sich um eine öffentliche Versammlung, doch sie musste ihn ertragen, da seine Partei immer wieder die Wahlen gewann. Die Abneigung dauerte bis zu seinem Tod 1898. Ihr einziger Trost war, dass Gladstones liberale Regierungen sich bei den Wahlen mit den Konservativen Disraelis abwechselten. Jahrzehntelang bestimmten diese beiden das politische Geschehen. Gladstone konnte mit seinen Reden bis zu 25 000 Menschen in seinen Bann ziehen und war 1894 im Alter von 84 noch immer Premierminister.
Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 brachte das Deutsche Reich hervor, dessen Oberhaupt dann später Kaiser Wilhelm II. wurde. Als Sohn «Vickys», der ältesten Tochter Victorias, war Wilhelm ein Enkel der Königin. Doch trotz aller Bemühungen der Queen und Prinz Alberts, mit ihrer weitverzweigten Familie den Frieden in einem weitgehend von ihren Nachkommen regierten Europa zu bewahren, stand Wilhelm an der Spitze jenes Deutschland, das 1914 den Krieg begann. In jenen Jahren lag der Republikanismus in der Luft und führte, unter anderem, 1870 in Frankreich zum Sturz des Dritten Kaiserreichs. In Grossbritannien begannen die 1870er-Jahre damit, dass die Monarchie dank mehrerer Zufälle gewissermassen in letzter Minute gerettet wurde. Im August 1871 erkrankte die Königin an einer gefährlichen Infektion am Arm. Da forderte ein liberaler Abgeordneter das Parlament auf, Königin Victoria abzusetzen und die Republik auszurufen. Parallel hierzu erkrankte Victorias ältester Sohn, der Prinz von Wales, schwer an Typhus. Und kaum ging es ihm besser, da unternahm ein junger Mann den sechsten Anschlagsversuch auf das Leben der Queen. All dies zusammen führte zu einer Welle der Sympathie für die Monarchie und liess die republikanische Stimmung deutlich abflauen.
Von da an erfreute die Monarchie sich zunehmender Sympathie und Popularität. In der Operette «The Pirates of Penzance» von Gilbert und Sullivan, die 1879 am Silvesterabend Premiere feierte, gibt es eine Szene, in der nichts die Piraten dazu veranlassen kann, sich der Justiz auszuliefern, bis man sie auffordert: «In the name of the Queen, we charge you – yield!» («Im Namen der Königin: Wir fordern Sie auf – ergeben Sie sich!»). Sie singen: «We yield, we yield, with ready mien, for with all our faults we love our Queen» («Wir ergeben uns, wir ergeben uns, bereitwillig mit frohem Herzen, denn trotz all’ unserer Fehler lieben wir unsere Königin»).
1872–1887 POLITISCH BEDEUTSAMSTE JAHRE – ENGLAND AUF DEM GIPFEL SEINER MACHT
Dies war der Zeitraum, in dem die Königin in jeder Richtung besonders grosse politische Aktivitäten entfaltete. Im Parlament gab es heftige Debatten über die Autonomie der Iren. Ferner wurde das Wahlrecht, welches bis anhin nur gut situierten Bürgern vorbehalten war, zum ersten Mal allen Briten gewährt. Das Reich und seine Handelsrouten wurden erweitert. 1875 gelang es Disraeli für Grossbritannien, einen Hoheitsanspruch am Suezkanal zu erwerben. Typisch für ihn legte er der Königin den Vertrag mit überschwänglicher Geste metaphorisch zu Füssen und sagte: «Ist erledigt. Er gehört Ihnen, Ma’am.» Am 1. Mai 1876 wurde die Königin von Grossbritannien und Irland gleichzeitig zur Kaiserin von Indien ausgerufen. Indien war das Gravitationszentrum des mächtigen Britischen Reiches, das Grossbritannien zu einer Weltmacht werden liess.
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