5. Solidarität, Subsidiarität und soziale Marktwirtschaft als Grundpfeiler . Im Zeichen des «christlichen Solidarismus» (so lautete das frühere Schlagwort) suchten die Vorgängerparteien einen dritten Weg zwischen dem «individualistischen Liberalismus» und dem «kollektivistischen Sozialismus», einen Weg, der die Gemeinschaft, wie zum Beispiel die Ehe und Familie, oder den solidarischen Ausgleich gegen den Klassenkampf betonte. Jahrzehntelang sprach die Partei ohne konkrete Vorstellungen von der «berufsständischen Ordnung», nach 1945 von der «sozialen Marktwirtschaft», sie meinte aber immer den sozialen Ausgleich der «Stände» und Schichten. 13
6. Ausgleich und Mediation als Funktionen . Mit Recht betonen die beiden Politikwissenschaftler Timotheos Frey und Ludwig Zurbriggen die «Mediations»-Funktion der Christlichdemokraten in der Politik und bezeichnen diese als Grundelement ihrer Politik. Zu beachten ist, dass das, was in politologischer Sprache als «Mediation» bezeichnet wird, früher Ausgleich, Kompromiss oder Konkordanz hiess. Schon am Fraktionsjubiläum von 1983 sprach ich in meiner Ansprache vom langen Weg von der Opposition zum «Scharnier» in der Zauberformel-Regierung und meinte diese Mediationspolitik. Insofern war es eine logische Strategie, dass die CVP als Regierungspartei eine Brückenfunktion zwischen linker Sozialdemokratie und rechtem Wirtschaftsfreisinn einnehmen konnte und zum Architekt und Amalgam der Zauberformel-Regierung wurde.
7. Heterogene Sozialstruktur mit Parteiflügeln: Da die Partei von Anfang an eine sozial heterogene Volkspartei darstellte, gehörten Richtungs- und Flügelkämpfe zur Wirklichkeit der CVP. Es änderten sich im Verlauf der Jahrzehnte nur die Konstellationen. Bis zum Ersten Weltkrieg beherrschte der Gegensatz zwischen den Stammlanden und der Diaspora die Partei, 14in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschwerte der Konflikt zwischen Konservativen und Christlichsozialen die Geschlossenheit, und im letzten Drittel des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts dominiert der Konflikt zwischen den Anhängern in den urbanen Agglomerationen und jenen in der Landschaft der alpinen und voralpinen Regionen die CVP. Die Partei versucht, diese Flügelkämpfe durch Mechanismen der Konfliktregelung zu dämpfen und zu kanalisieren.
8. Das konfessionelle Dilemma mit dem C . Seit dem 19. Jahrhundert versuchte die Partei in der konfessionell fragmentierten Schweiz den konfessionellen Graben zu überschreiten und Protestanten als Wähler zu gewinnen. Obwohl sie im 20. Jahrhundert Schritt für Schritt die institutionellen und ideologischen Verbindungen mit der Kirche und dem Katholizismus als Sozialform lockerte und 1970 endgültig aufgab, blieb sie bislang im katholischen «Ghetto» stecken.
9. Zwei Pole . In ihrer langen Geschichte wiesen die CVP und ihre Vorgängerparteien zwei mit sich streitende Pole in wechselnder Konstellation und mit wechselnden Schwerpunkten auf. Erstens war die Partei eine katholisch-konfessionelle Partei, solange sie den Kulturkampf und seine Relikte wie die Ausnahmeartikel bekämpfte und die soziale Minderheitenstellung der Katholiken durch die Gleichberechtigungspostulate aufheben wollte. Zweitens war die Partei eine politische, denn sie vertrat stets staats- und gesellschaftspolitische Themen wie Föderalismus, Familie, soziale Marktwirtschaft und so weiter. Bis zur leichten Linksöffnung in den 1950er-Jahren steuerte sie einen stramm antisozialistischen, später bis 1989 einen antikommunistischen Kurs. Im Verlauf der 80er-Jahre machte sie eine Rechtswende hin zu bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsvorstellungen, kombiniert mit einem Wertekonservativismus, durch. 15
10. Christlich-demokratisch . Schon im 19. Jahrhundert war die CVP «christlichdemokratisch» avant la lettre, da sie die Demokratie als Staatsform grundsätzlich nie in Frage stellte und eine Partei von Staatsbürgern war, die zwar den weltanschaulichen Orientierungsanspruch der katholischen Kirche anerkannte, in der Praxis aber oft einen autonomen Kurs einschlug. Priesterpolitiker wie in Österreich oder Deutschland gab es in der Schweiz nicht, denn sie hatten eher die Rolle von Intellektuellen inne. Als christlichdemokratische Partei wollte sie schon um 1900 die konfessionellen Schranken überwinden, was ihr wegen der unterschiedlichen Konfessionskulturen in der Schweiz bisher nur ansatzweise gelang.
1.2 VON DER HINTERBANK IM PARLAMENT ZUM SCHARNIER IN DER ZAUBERFORMEL-REGIERUNG
Der Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848 ging eine rund 50-jährige Periode von Revolutionen und Gegenrevolutionen voraus. 1Verfassungsänderungen und Regierungsstürze, Putschs und Staatsstreiche, Volksaufstände und Befreiungsbewegungen, kurz politische Gewalt beherrschten vorab in den 1840er-Jahren die eidgenössische Politik. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren. 1839 erregte die Wahl eines liberalen Theologieprofessors an die Zürcher Universität das fromme reformiertkonservative Landvolk so sehr, dass daraus eine Volksbewegung entstand, die zum Sturz der freisinnigen Zürcher Regierung führte. 1845 fiel im Kanton Luzern der konservative Bauernführer Josef Leu von Ebersoll einem politischen Attentat zum Opfer.
Die Auseinandersetzungen zwischen den Radikal-Liberalen und den Katholisch-Konservativen (so lauteten die zeitgenössischen Parteibezeichnungen) erreichten Mitte der 1840er-Jahre einen ersten Höhepunkt. Als Gegenaktion auf die Berufung der Jesuiten nach Luzern organisierten die Radikalen zwei interkantonale Befreiungsbewegungen zum Sturz des ultramontan-katholischen Luzerner Regimes. Zum Schutz gegen die Freischarenzüge bildete sich 1845 der «Sonderbund» der sieben katholisch-konservativen Kantone Luzern, Freiburg, Wallis, Uri, Schwyz, Zug, Ob- und Nidwalden. Die Schweiz spaltete sich faktisch in zwei Teile auf. Im Spätherbst des Jahres 1847 löste die radikal-liberale Bundesmehrheit in einem Bürgerkrieg den Sonderbund mit Waffengewalt auf. Der Weg zur Gründung des modernen Bundesstaats war frei.
1848–1874: «Bürger zweiter Klasse» im neuen Bundesstaat
Die freisinnige Siegerpartei errichtete aus Furcht vor einer konservativen Restauration ein Ausschliesslichkeitsregime, in dem für die Verlierer des Bürgerkriegs kein Platz war. Als Vaterlandsfeinde und Sonderbündler verfemt und als ultramontane und jesuitische Reaktionäre verachtet, wurden die Katholisch-Konservativen aus der freisinnig-eidgenössischen Gemeinschaft des neuen Bundesstaats ausgeschlossen.
Die Lage der katholisch-konservativen Partei war in den Kantonen nicht besser als im Bund. Mit Hilfe des eidgenössischen Militärs und der kantonalen Marionetten der Sieger von 1847 hatten sich in den Sonderbundskantonen freisinnige Willkürherrschaften installiert. Nur gerade die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden liessen sich nicht völlig gleichschalten.
Vor diesem Hintergrund versteht man, dass die katholisch-konservative Opposition in der Anfangszeit im Parlament des Bundesstaats ein Hinterbänkler- und Aschenbrödeldasein fristete. Auf Bundesebene war sie eine diskriminierte und exkommunizierte Minderheit, eine machtlose und vielfach rechtlose Opposition, die froh sein durfte, dass sie von der freisinnigen Staatspartei nicht noch mehr schikaniert wurde. Die katholisch-konservative Opposition marschierte im Bundesstaat neben der Entwicklung her, die sie kaum beeinflussen konnte. Vom Luzerner National- und Regierungsrat Philipp Anton von Segesser stammt das Wort: «Für mich hat die Schweiz nur Interesse, weil der Canton Luzern – dieser ist mein Vaterland – in ihr liegt. Existirt der Canton Luzern nicht mehr als freies, souveränes Glied in der Eidgenossenschaft, so ist mir dieselbe so gleichgültig als die grosse oder kleine Tartarey.» 2
Notgedrungen zogen sich die Katholisch-Konservativen vor dem Zugriff der radikalen Alleinherrschaft in jene Bereiche der Gesellschaft zurück, wo der Freisinn an seine Grenzen stiess: in die Kantone und in die Kirche. So machten sich die Katholisch-Konservativen unmittelbar nach 1848 an die Rückeroberung ihrer «Stammland»-Kantone. Bereits 1850 kam es in Zug zu einem Regierungswechsel, 1856 folgte Freiburg und 1857 das Wallis. Zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs hatten die Katholisch-Konservativen mit Ausnahme von Luzern alle Sonderbundskantone wieder fest in der Hand. Der Umschwung in Luzern erfolgte 1871 im Zeichen des aufkommenden Kulturkampfes.
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