Der Grundsatz der freien, situativen Führung galt für Wille von der gefechtstechnischen über die taktische bis zur militärstrategischen Ebene. Dieser Grundsatz ist für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mehr andeutungsweise und implizit fassbar. Als dann während des Aktivdiensts, konkret von Anfang 1917 bis Anfang 1918, theoretisch ein Vorgehen Deutschlands und Frankreichs über Schweizer Territorium möglich schien und im Schweizer Generalstab dagegen prophylaktisch operative Studien ausgearbeitet wurden, äusserte sich auch der Oberbefehlshaber dazu. Wille meinte, er wolle keine bindenden Planungsvarianten und zusammen mit dem Feind des Feinds über den Aufmarsch situativ befinden und erst dann den Kampf suchen: «Wenn einer unserer grossen Nachbarn uns mit Krieg überzieht, so werden wir in dem andern unsern Alliierten haben, der uns zu Hilfe kommt. Niemals dürfen wir uns der Gefahr aussetzen, dass er mit seinen uns immer numerisch überlegenen, kriegsgewohnten und mit allen Hilfsmitteln der Technik viel vollkommener ausgerüsteten Truppen uns angreift und schlägt, bevor unser Alliierter zu Stelle ist.» Deshalb durfte das Gefecht mit dem Angreifer nicht zu früh gesucht und die Verteidigung aus einer Aufstellung angestrebt werden, welche für das Zusammengehen mit dem Alliierten noch Freiheiten liess und lediglich verzögernd geführt werden sollte: «Wir dürfen uns daher nicht auf die Abwehr seines Vordringens in unser Land einrichten, sondern auf die Verzögerung zum Zeitgewinn für unsern Aufmarsch und für das Herankommen unseres Alliierten. Wir sammeln unsere Kräfte so weit zurück, dass auch dadurch dieser sichergestellt wird: Ob dafür ein beträchtlicher Teil des Landes dem Invasor preisgegeben wird, ist gleichgültig; wenn wir hoffen dürfen, ihn wieder aus dem Land herausbringen zu können, macht es nichts aus, wenn wir ihn herein lassen. Wenn unsere Armee aufmarschiert und der Alliierte herankommt, wird der vormarschierende Feind aus zwei Fronten angegriffen.» 18Wille wollte dem Alliierten und sich selbst alle Freiheiten lassen, sich für eine Feldschlacht so aufzustellen, wie er es in Absprache mit dem Verbündeten am besten hielt: «Wo wir uns sammeln, das hängt davon ab, wann unser Alliierter über den Rhein kommen kann; ob wir uns sammeln […], das kann durch spätere Besprechungen geklärt werden; auch dafür ist das Planen und Handeln unseres grossen Alliierten bestimmend. Die Entscheidung muss in der offenen Feldschlacht des Bewegungskrieges gesucht werden, alle Faktoren für den Grabenkrieg, in dem unsere Gegner sich jetzt 2 ½ Jahre eingeübt haben, fehlen uns, oder sind wenigstens bei uns sehr unvollkommen und unfertig vorhanden.» 19Wille wollte weder zeitliche noch räumliche Festlegungen, und er wollte sich die operativen Freiheiten, einen Bewegungskrieg zu führen, auch nicht durch Armeelinien und die Anlage von Grabensystemen nehmen lassen. Diese Stellungnahmen aus den Jahren 1917/18, sein Bericht über den Aktivdienst an die Bundesversammlung 1919 und seine Ausführungen in den «Kriegslehren» von 1924 zeigen, dass er gegen alle Empirie der industriellen Kriegführung der Jahre 1914/1918 an seinem Credo der Überlegenheit der soldatisch erzogenen Truppe und der imponierenden Führung der Offiziere festhielt. Dieser hoch idealistische Glaube gründete in einem Gesellschafts- und Geschichtsbild, welches dem Militär und dem Krieg eine zentrale Wirkkraft bei der Fortentwicklung der (Männer-)Nationen beimass.
Krieg, Staat und Gesellschaft im Denken Ulrich Willes
Willes Denken wurzelte tief im deutschen Idealismus und in der preussischen Militärtheorie. Er war mit der deutschen Staatsrechtslehre und der deutschen, neohegelianischen Geschichtsphilosophie des Fin de Siècle bestens vertraut. Die Elemente dieser Lehre und Philosophie reproduzierte er ebenso regelmässig wie seine Auffassung des Disziplinbegriffs und des Männlichkeitskonzepts. Hier wurzelt auch sein Begriff der Kriegstauglichkeit, der keineswegs utilitaristisch – rein gefechtstechnisch – verstanden werden darf. Krieg deutet er in Übereinstimmung mit der deutschen Staats- und Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts als Überprüfung des erzogenen Männerheers und damit als Ausweis für die Überlebensfähigkeit und Existenzberechtigung nationaler Staaten. 20Vor diesem Hintergrund bewertete er die Entwicklung des soldatischen Männerpotenzials höher als das Entwicklungspotenzial ziviler Erziehung und Bildung der liberalstaatlich verfassten Gesellschaft, welche er nicht ablehnte, aber als Hindernis auf dem Weg zur Kriegstauglichkeit einstufte. «Die allgemeine Dienstpflicht, verbunden mit ernsthaftem Betrieb des Wehrwesens ist das letzte, das höchste Mittel der Volkserziehung in unserer Zeit. Nur dadurch kann die Menschheit männlich und gesund erhalten werden, in einer Zeit, wo das Wohlleben stetig zunimmt und die Kriege so viel seltener, und die Menschheit viel weniger als in früheren Zeiten durch Not und Elend und andre ähnliche Mittel der harten Schule des Lebens zu Männern erzogen wird. Darin liegt die hohe ethische Bedeutung des Wehrwesens, die nicht bloss bestehen bleibt, sondern nur grösser geworden ist, wenn es keine Kriege mehr gibt. Diesen Einfluss auf die Erhaltung der sittlichen Kraft, das heisst auf die Existenzberechtigung eines Volkes, kann ein Wehrwesen nur dann ausüben, wenn bei seiner Erschaffung, das was der Krieg erfordert, das einzige wegleitende ist.» 21Kern der deutschen Staats- und Geschichtsphilosophie war der Glaube, dass mit der «Erhaltung der sittlichen Kraft» die Kriegstauglichkeit erreicht und damit dem Krieg als Bewährungsinstanz Genüge getan werden könne – egal ob siegreich oder geschlagen. Wille war der Überzeugung, dass jeder Staat ein Heer haben müsse, sonst «verfaule er innerlich»: «Das ist eine Binsenwahrheit, die die Geschichte aller Völker in allen Zeiten lehrt. Das kriegstüchtigste Volk ist auch im Kampf des wirtschaftlichen Lebens das stärkste.» 22
Drill als Mittel zur Erlangung von Kriegstauglichkeit: Formalausbildung auf dem Waffenplatz Bière (Bild: BiG).
Die Armee wird damit zum Medium der gesellschaftlichen Erneuerung und Regeneration. Dies ist der gesellschafts-, geschichts- und staatstheoretische Hintergrund von Willes Militärpädagogik, welche tief im bellizistischen und militaristischen Glauben an die Funktion der Armee als Erzieherin der Gesellschaft wurzelt. Einer Gesellschaft, welche den geistigen und physischen Fortschritt in den Männern angelegt sah. Mit der «Erziehung des Mannes zum Manne» glaubte Wille die Nation für den kriegerischen und friedlichen Kampf der Nationen um die Weiterexistenz konkurrenzfähig zu machen.
Wie ist es zu erklären, dass sich nach heftigem Richtungsstreit im schweizerischen Offizierskorps Willes Denken spätestens nach der Annahme des neuen Militärorganisationsgesetztes im Jahre 1907 als dominant erwies, wenn auch nicht hegemonial durchsetzte? Wille hatte mit seinem Konzept eine Antwort auf eine doppelte Problemlage: Er hatte eine Antwort auf die rasant zunehmende Führungsproblematik auf dem feuerintensiven Gefechtsfeld, welches keine geschlossenen Formationen und bald auch keine Schützenlinien mehr zuliess. 23Und er hatte eine Antwort auf die gesellschaftliche Entwicklung, welche als dekadent-verweichlicht gedeutet wurde und zunehmend von sozialen Spannungen geprägt war. Die nachhaltende Wirkung seiner Militärpädagogik auf die Schweizer Armee über den Zweiten Weltkrieg hinaus ist nur damit erklärbar, dass die Schweiz weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg Kriegsteilnehmer war. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde jedoch Willes preussisch-deutscher Erziehungsund Pflichtbegriff bei der jungen Offiziersgeneration, welche sich um die Zeitung Volk und Armee scharte, kritisch infrage gestellt. 24Die Erkenntnisse der gruppenorientierten Psychologie und Soziologie liessen Willes Erziehungskonzept als gescheiterter idealistischer Autoritarismus erscheinen. 25Den Reformern war aufgegangen, dass die Militärpädagogik Willes glauben machte, mit der besseren soldatischen Männlichkeit – mit besserem Soldatentum – Kriege gewinnen zu können. Ein Glaube, der 1945 ein zweites Mal enttäuscht wurde, aber in der Schweizer Armee trotzdem vorerst weiterlebte und erst in der Zeit nach den Oswald-Reformen Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts allmählich verblich.
Читать дальше