2.3Neurezeption des Volk-Gottes-Begriffs auf dem Konzil: Das Volk-Gottes-Sein der Kirche als Erweis ihrer Katholizität
Die vom Zweiten Vatikanischen Konzil aufgegriffene Selbstbezeichnung der Kirche als „Volk Gottes“ will das Selbstverständnis einer „societas perfecta“ aufgeben zugunsten eines entgrenzten Kirchenverständnisses, nach dem der Sinn der Kirche – trotz und wegen ihrer Sakramentalität – nicht allein in ihr selbst liegt, sondern im universalen Heilswillen Gottes, der die ganze Schöpfung heimholen will zur Vollverwirklichung seiner Gottesherrschaft. 412Kirche als Volk Gottes zeichnet sich nach Meinung der Konzilsväter nämlich gerade dadurch aus, dass sie sich – weil auf die Heimholung der gesamten Schöpfung bleibend ausgerichtet und aufgrund ihrer Sakramentalität (s.u.) – als eschatologische Größe weiß, als endzeitliches Volk Gottes, das erst noch vollendet werden muss und in dieser Vollendung seine restlose Absolutheit erhält. Als diese eschatologische Größe ist die Kirche ein pilgerndes Volk auf dem Weg , ein Volk, das „auf die Parusie des Herrn als zukünftige dadurch wartet, dass sie die Parusie des Herrn als gegenwärtige in sich trägt.“ 413Gerade hierin erweist sich ihre Katholizität:
Weil die Kirche die Herbeiführung der Gottesherrschaft ist, muss sich die Kirche als Volk Gottes „in geschichtlicher Entwicklung […] auf Erden ausbreiten. So ergibt sich die universal-menschheitliche Bedeutung dieses Volkes. Die ‚kleine Herde’ birgt für die gesamte Menschheit lebendige Kräfte der Einigung und der steten Aufwärtsbewegung zum Heil in sich […]. In Christus wird sie zur Vermittlerin der Erlösung an die ganze Welt. […] [Denn] das Subjekt des Heils, an das Gottes Erbarmen sich wendet, ist zunächst immer das Volk, die Gesamtheit der Völker, ist die Kirche als der Partner des Bundes, und der Einzelne immer nur als Glied an diesem Volk der Verheißung […]. Alle Heilswege Gottes führen in die Gemeinschaft.“ 414
Die qualitative, intensive Katholizität, die das Entscheidende ist, drängt zu ihrer quantitativen, extensiven Katholizität. Weil die Kirche als Gottes auserwähltes Volk katholisch ist, weil sie von Christus her die Fülle des Lebens und der Gnade, die Ganzheit der Offenbarung Gottes in Christus im Heiligen Geist als gegenwärtig in sich trägt, kann sie sich nicht mit sich selbst begnügen. Vielmehr muss sie die in sich tragende Fülle und Vollkommenheit Christi, d.h. ihre qualitative, intensive Katholizität, weiter vermitteln und muss immer wieder in die missionarische Dynamik des Sauerteigs, der den ganzen Teig durchdringt, finden. 415Anders gesagt: Weil die Kirche in einer strukturellen Kontinuität zu Israel als Volk Gottes das Ganze, die Fülle des Heils in sich trägt (qualitative Katholizität), kann sie, wenn sie „ganz“ katholisch sein und bleiben will, diese Fülle nicht für sich allein behalten, sondern muss von ihrer intensiven Katholizität auf die extensive Katholizität hindrängen, d.h. Kirche aller Völker und aller Kulturen sein (quantitative Katholizität). Kirche muss, um ihrem Volk-Gottes-Sein, ihrer Katholizität, gerecht zu werden, „von der Erkenntnis beseelt sein, dass die Gabe, die ihr geschenkt wurde, ihr zum Weitergeben übertragen worden ist; dass sie diese Ganzheit veruntreuen würde, wenn sie sie nicht hintragen würde ‚zu jeder Kreatur’ (Mk 16,15)“ 416.
LG 13 entfaltet diese Katholizität der Kirche als des universalen Volkes Gottes. Ihr Wesen bestimmt sich aus dem Leben des Volkes Gottes in der ihm innewohnenden Dialektik zwischen Einheit und Vielheit, in der Spannung zwischen seiner Berufung zur Sammlung des endzeitlichen Gottesvolkes (Einheit und Einzigkeit) und seiner Sendung zu allen Menschen aller Orten und Zeiten (Vielheit, Universalität). Das Konzil versteht die Katholizität der Kirche als ein Ausbreiten des einen Volkes unter allen Völkern der Erde (quantitative, extensive Katholizität) dergestalt, dass alle Gläubigen miteinander in Gemeinschaft (communio) stehen, und zwar mit der ganzen pneumatischen Fülle, die dem Gottesvolk zu eigen ist (qualitative, intensive Katholizität). 417LG 13 betrachtet die extensive Katholizität des Volkes Gottes schließlich unter zwei Blickrichtungen: zunächst mit Blick auf die ganze Menschheit, dann mit Blick auf die innere Verfasstheit der Kirche:
„In ihr [ihrer Weltweite, das meint ihrer extensiven Katholizität] strebt die katholische Kirche mit Tatkraft und Stetigkeit danach, die ganze Menschheit mit all ihren Gütern unter dem einen Haupt Christus zusammenzufassen in der Einheit seines Geistes […]. Kraft dieser Katholizität bringen die einzelnen Teile ihre eigenen Gaben den übrigen Teilen und der ganzen Kirche hinzu, so dass das Ganze und die einzelnen Teile zunehmen aus allen, die Gemeinschaft miteinander halten und zur Fülle in Einheit zusammenwirken [= intensive Katholizität]. So kommt es, dass das Gottesvolk nicht nur aus den verschiedenen Völkern sich sammelt, sondern auch in sich selbst aus verschiedenen Ordnungen gebildet wird. Unter seinen Gliedern herrscht eine Verschiedenheit, sei es in den Ämtern, […], sei es in Stand und Lebensordnung […]. Darum gibt es auch in der kirchlichen Gemeinschaft zu Recht Teilkirchen, die sich eigener Überlieferungen erfreuen, unbeschadet des Primats des Stuhles Petri, welcher der gesamten Liebesgemeinschaft vorsteht […], die rechtmäßigen Verschiedenheiten schützt und zugleich darüber wacht, dass die Besonderheiten der Einheit nicht nur nicht schaden, sondern ihr vielmehr dienen. Daher bestehen schließlich zwischen den verschiedenen Teilen der Kirche die Bande einer innigen Gemeinschaft der geistigen Güter, der apostolischen Arbeiter und der zeitlichen Hilfsmittel. Zu dieser Gütergemeinschaft nämlich sind die Glieder des Gottesvolkes berufen, und auch von den Einzelkirchen gelten die Worte des Apostels: ‚Dienet einander, jeder mit der Gnadengabe, wie er sie empfangen hat, als gute Verwalter der vielfältigen Gnadengaben Gottes’ (1 Petr 4,10).“ 418
Die Katholizität der Kirche, wie sie die Kirchenkonstitution sieht, besteht demnach in einer Spannungseinheit: Der eine Pol dieser Spannungseinheit wird durch die Fülle in der Einheit bestimmt, die durch die Communio der Teilkirchen mit ihrer je eigenen kirchlichen Wirklichkeit zustande kommt. Der andere Pol zeigt sich in der Verschiedenheit in der Einheit, die das Volk Gottes schon in sich trägt, nämlich in seiner Struktur nach innen bestehend aus Ämtern, Ständen und Lebensordnungen. Durch diesen zweiten Pol soll verdeutlicht werden, „dass in dem einen Volk Gottes [selbst schon] Raum ist für alle Berufungen und Lebensweisen, welchen den Einzelnen zur Entfaltung kommen lassen und doch dem Ganzen dienen. […] Dieses Zusammenspiel der Ordnungen ist […] die rechte Garantie dafür, dass der Geist des Dienens und der Communio alle Teilkirchen, genommen unter sich und in ihrer Beziehung zur Gesamtkirche, erfasst.“ 419
Die intensive Katholizität der Kirche gründet in einer grundlegenden Gemeinsamkeit (Brüderlichkeit, „communio“, allgemeines Priestertum) aller Glaubenden. Vor aller Differenz der Gläubigen, was Charismen, Dienste und Ämter anbetrifft sowie vor aller hierarchischen und ständischen Strukturierung der Kirche betont der Volk-Gottes-Begriff die grundsätzliche Gleichheit aller im Volk Gottes, „eine wahre Gleichheit in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi.“ (LG 32) und wehrt von vornherein dem Missverständnis, unter „dem Volk“ seien lediglich die Laien, d.h. die „nichtgeweihten Gläubigen“ zu verstehen.
Die extensive Katholizität ermöglicht, wie die Artikel 14–16 ausführen, eine gestufte oder relationale Kirchenzugehörigkeit . Diese Thematik war umso brisanter, als dass im Anschluss an die Enzyklika „Mystici Corporis“ Papst Pius XII. die Kirchengliedschaft an drei Voraussetzungen geknüpft war, nämlich an die Taufe, an den rechten Glauben sowie an die Zugehörigkeit zur rechtlichen Einheit der Kirche; damit aber waren die Nichtkatholiken von der Kirchengliedschaft gänzlich ausgeschlossen. Das bis dato vorherrschende Bild von der Kirche als „Leib Christi“ erwies sich – vor allem im ökumenischen und interreligiösen Dialog – als zu eng, ermöglicht es doch mit Blick auf die Zugehörigkeit zum „Leib“ lediglich die Vorstellung des „Gliedes“: Glied ist man oder man ist es nicht. Die Rede vom „Volk Gottes“ sollte diese Engführung weiten und eine neue Verhältnisbestimmung sowohl der nichtkatholischen Christen als auch der Nichtchristen zur katholischen Kirche ermöglichen. So kann gesagt werden, „dass der Begriff ‚Volk Gottes’ vom Konzil vor allem als ökumenische Brücke eingeführt worden ist“ 420, was auch in anderer Hinsicht gilt, verhindert die Bezeichnung der Kirche als „Volk Gottes“ doch eine absolute Selbstidentifizierung der katholischen Kirche mit der wahren Kirche Jesu Christi, die – vor allem seitens der Protestanten – in die Selbstbezeichnung als „Leib Christi“ hineininterpretiert wurde. Der Volk-Gottes Begriff lässt deutlich werden, dass die Kirche bei aller substantiellen Identität mit der wahren Kirche Jesu Christi nicht absolut mit ihr identisch ist, sondern eine von ihr verschiedene Größe bleibt: Sie ist „ecclesia semper reformanda“, eine pilgernde, d.h. auf dem Weg seiende Kirche, eine „Kirche der Sünder, die immer wieder der Reinigung und der Erneuerung bedarf, immer wieder Kirche werden muss.“ 421Als pilgerndes Volk Gottes sieht sich die Kirche „sowohl in die Tradition des Exodus Israels […] als auch in die Solidarität Gottes mit den Armen u[…][nd] Leidenden dieser Welt gestellt“ 422(LG 8 und 9).
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