Ich erinnere mich noch gut an ihre Verzweiflung.
Alles war geschlossen, kam zum Erliegen. Die Kinder gingen nicht zur Schule, weil sie bei der Nahrungsbeschaffung helfen mussten. Die Preise waren astronomisch hoch, und auch die Viehzüchter hatten Schwierigkeiten. Wenn man Ziegen und Hühner hatte, musste man mit Bedacht vorgehen : Man durfte sie nicht alle auf einmal essen, konnte das Fleisch jedoch der Hitze wegen auch nicht konservieren. Die einzige Möglichkeit war, sie zu verkaufen und Nsima davon zu kaufen, die haltbar war und den Magen für einige Tage füllte. Doch die Tiere waren ein grundlegendes Kapital und eine Investition, die große Opfer verlangt hatte, und so war es schwer, sich – zumal zu einem Schleuderpreis – von ihnen zu trennen. Hinzu kam, dass der Maispreis explodierte und unter den armen Leuten Gerüchte kursierten, wonach einige große Konzerne, die über die entsprechenden Mittel verfügten, genau darauf spekuliert hatten : Sie hätten große Vorräte für wenig Geld aufgekauft und würden sie nun zu exorbitanten Preisen weiterverkaufen.
Die Straßen waren voller erschöpfter und verzweifelter Menschen, die alles Mögliche aßen, nur um sich den Magen zu füllen. Einige starben, weil sie giftige Wurzeln gegessen hatten, andere, weil sie nicht einmal mehr die Kraft hatten, zu reagieren. Zuhause aßen wir nur einmal am Tag, mittags. Ich kochte keinen Maisbrei mehr, sondern eine Art Porridge aus Getreide, Wasser und Zucker. Das war alles, was wir uns erlauben konnten. Dabei konnten wir uns, verglichen mit der Mehrheit der Bevölkerung, noch glücklich schätzen. Die Nachbarn und die Freunde wurden argwöhnisch. Jeder misstraute jedem. Sie waren neidisch. Sie hatten Angst, bestohlen zu werden. In den Straßen der Stadt herrschte eine leidende, resignierte Stimmung. Die Tage verstrichen immer langsamer, immer leerer.
In der Schule hatte ich zum ersten Mal von Aids gehört.
Eine meiner Freundinnen hatte die gleiche Zahnbürste wie ich : dieselbe Marke und dasselbe Modell, und einmal hatte ich aus Versehen ihre genommen. »Vorsicht !«, schrie sie. »Das ist meine !«
»Woher weißt du das ?«
»Ich habe den Griff markiert.«
Ich fragte sie nach dem Grund, ich wollte wissen, weshalb sie so sehr auf ihre Zahnbürste achtete. Wir waren Kinder, Freundinnen, und hatten schon oft unsere Seife oder unsere Kleider getauscht. Das war zwar etwas anderes als eine Zahnbürste, aber ihre Reaktion kam mir trotzdem übertrieben vor. Sie erklärte mir, dass wir vorsichtig sein müssten, weil es eine neue Krankheit gebe, Aids, die sich über das Blut übertrage, und dass ich sie, wenn ich damit infiziert wäre, hätte anstecken können, wenn ich mir beim Zähneputzen das Zahnfleisch verletzt hätte.
Meine zweite, sehr viel schmerzlichere Begegnung mit Aids hatte ich – auch wenn es im Grunde niemand hatte zugeben wollen –, als meine Eltern daran starben. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nur eine vage Vorstellung, worum es sich handelte. Ich wusste, dass es eine unbekannte Krankheit und anders als alle anderen Krankheiten war, aber ich kannte weder ihren Charakter noch ihre Wirkung. Ich versuchte mich zu informieren, aber ich wurde zum Schweigen gebracht. »Frag nicht und sprich mit niemandem darüber«, schärften mir meine Großeltern und der Rest der Familie ein. Wer an dieser Krankheit starb, musste das im Stillen tun und durfte keine Spuren hinterlassen.
In den darauffolgenden Jahren war Aids jedoch in der gesamten Region südlich der Sahara zu einem wirklichen und echten Notfall geworden. Im Radio brachten sie ständig Berichte und gaben Anweisungen, wie man mit dem Virus und mit den Menschen umgehen sollte, die sich damit infiziert hatten. Ich traf mich mit den Nachbarn zu stundenlangen Diskussionen an der Türschwelle. Am besten wäre es doch wohl, so sagten wir, jeden Kranken mit einem Zeichen auf der Stirn zu markieren. Das sei das Nächstliegende. Da er eine Gefahr für den Rest der Bevölkerung sei, könne man ihn ebenso gut kenntlich machen und von den anderen fernhalten. Die Straßen der Stadt hatten sich geleert und waren stiller geworden. Beinahe täglich wurde jemand beerdigt. Der Präsident hatte die Straßen mit großen Bekanntmachungen plakatiert, auf denen er eine einzige Lösung propagierte, das »Rezept der drei A«: »Abstinenz, Abstinenz, Abstinenz.«
Ich begann darüber nachzudenken, ob es nicht angebracht sei, den Test zu machen. Ich wollte sichergehen, dass ich nicht krank war, und falls doch, dann wollte ich mir die nötigen Medikamente verschaffen. Mir war bewusst, dass sie mich nicht würden retten können, aber sie hätten zumindest die Beschwerden gelindert und mein Leben um einige Jahre verlängert, das Ende hinausgezögert. Ich wusste, dass ich im Fall der Fälle stark, fest und entschlossen würde sein müssen. Dass der gesellschaftliche Tod dem physischen vorangehen würde. Dass ich wahrscheinlich im Stich gelassen, verraten und diskriminiert werden würde. Dass das Wenige, was die Krankheit unversehrt ließ, von Angst, Unwissenheit und Hoffnungslosigkeit getroffen werden würde.
Wenn ich durch unser Viertel ging, traf ich oft meine Schwäger, die viel jünger waren als James. Eines Tages begegnete ich dem Kleinsten von ihnen, der das vierte Jahr der weiterführenden Schule besuchte, und einem Mädchen, das ich zunächst für seine Mitschülerin hielt. Im Näherkommen hörte ich jedoch, wie mein Schwager zu dem kleinen Mädchen sagte : »Sag Pacem guten Tag, sie ist deine Tante.«
Ich verstand nicht, weshalb er das sagte, und achtete nicht weiter darauf. Doch von diesem Tag an lächelte das Mädchen mich an, wann immer wir uns begegneten, und gab mir die Hand.
Ich fragte einen anderen Schwager, wer sie sei.
»Das ist eine von James’ Töchtern«, sagte er ganz unbefangen.
Ich wurde zornig, ich war schockiert. Ich verstand nicht, warum er mir nie etwas gesagt hatte. Wir lebten seit einigen Jahren zusammen, wir waren eine Familie – wie hatte James etwas so Wichtiges vor mir geheim halten können ? Ich wusste, dass er schon einmal verheiratet gewesen war, aber er hatte nie erwähnt, dass er Kinder hatte. Als ich ihn zur Rede stellte, tat er es mit einem Achselzucken ab, als sei die Sache nicht der Rede wert. Dann teilte er mir wenige Tage später mit, wir müssten das Haus aufgeben und zu seiner Familie ziehen. Er sagte es einfach so, als ob das keine große Sache wäre und als ob es keine Alternative gäbe. Er versuchte nicht, sich zu rechtfertigen oder irgendetwas zu erklären.
Ich reagierte nicht, ich wehrte mich nicht. Ich nahm es hin.
Wir zogen einige Blocks weiter in ein großes Haus, das im selben Bezirk lag.
Wir lebten mit seinen drei Kindern aus erster Ehe, mit seiner Schwägerin, die sich um ihre Nichten und Neffen kümmerte, seinen beiden jüngsten Brüdern, seiner Schwester und einigen Cousinen und Cousins zusammen. Mit mir und Maupo waren wir zwölf.
Ich fühlte mich verloren, im Stich gelassen. Aber ich hatte keine Wahl. Was konnte ich schon tun ? Ich war allein und hatte ein kleines Kind. Wenn ich fortgegangen wäre und meinen Mann verlassen hätte, hätte ich auf niemanden zählen können. Ich hätte aufs Geratewohl losziehen und mir einen Mann suchen müssen, der bereit gewesen wäre, sich um mich und Maupo zu kümmern. Um was zu erreichen ? Zu welchem Zweck ? Wahrscheinlich hätte er ein Kind von mir haben wollen, und ich hätte mich wieder an demselben Punkt, in exakt derselben Situation befunden, der ich vermeintlich entronnen war. Und dann hätte ich wieder fortgehen und mir wieder einen anderen Mann suchen müssen, und womöglich wäre diese Irrfahrt mein ganzes Leben lang so weitergegangen. Das war nicht die Zukunft, die ich mir vorgestellt hatte. Ich wollte doch nur Stabilität, Frieden. Ich biss die Zähne zusammen, versuchte mit aller Kraft, durchzuhalten. Wieder und wieder sagte ich mir, dass James sich ändern, dass er wieder der werden würde, der er gewesen war : der Mann, in den ich mich verliebt hatte.
Читать дальше