Hinzu kommen die vielen Hinweise darauf, daß der Mönch sich des Urteils enthalten soll, es ihm nicht zusteht über andere zu urteilen und sich damit auch über sie zu stellen. Ein Bruder fragte den Altvater Euprepios:
„ ‘Wie kommt die Gottesfurcht in die Seele?’ Der Altvater antwortete: ‘Wenn der Mensch demütig und arm ist und nicht urteilt, dann kommt zu ihm die Furcht Gottes.“ (Euprepios 5)(Apo 222)
Auch seinen Augen soll man nicht trauen, jegliche Vermutung vermeiden, auch wenn sie noch so offensichtlich scheint:
„Abbas Poimen sprach: ‘Es steht geschrieben: Was dein Auge gesehen hat, das bezeuge! (Spr 25, 7). Ich aber sage euch: Auch wenn ihr es mit Händen greift, so redet nicht davon. Ein Bruder wurde in dieser Sache genarrt. Er sah etwas, wie wenn ein Bruder mit einem Weibe sündigte. Stark angefochten, ging er hin und stieß mit dem Fuße, im Glauben, daß sie es seien, und sagte: ‘Hört endlich auf, wie lange denn noch?’ Und siehe: es fanden sich Getreidegarben! Deshalb sage ich euch: Auch wenn ihr es mit Händen greifen könnt, urteilt nicht!” (Poimen 114)(Apo 688)
Ähnliches gilt für die Zurechtweisung:
„Einige von den Vätern fragten den Altvater Poimen: ‘Wenn wir einen Bruder fehlen sehen, willst du, daß wir ihn zurechtweisen.’ Der Greis antwortete ihnen: ‘Was mich betrifft: wenn ich durch jene Gegend wandern muß und ich sehe einen fehlen, dann gehe ich an ihm vorbei und weise ihn nicht zurecht.’ “ (Poimen 113)(Apo 687)
Etwas differenzierter sieht das ein anonymer Abbas:
„Ein Bruder fragte einen Greis: ‘Wenn ich mit anderen Brüdern beisammenwohne und beobachte irgend etwas Unziemliches, soll ich dann mit ihnen darüber reden?’ Er antwortete: ‘Wenn sie älter sind als du oder gleichaltrig mit dir, dann wirst du mehr Ruhe haben, wenn du schweigst, denn je mehr du dich erniedrigst, desto sicherer wirst du sein.’ Der Bruder fragte weiter: ‘Was soll ich also tun, Vater, denn mein Geist verwirrt mich?’ Der Greis entgegnete ihm: ‘Wenn es dir schwer fällt, dann ermahne einmal demütig. Wenn sie dir aber nicht gehorchen, so gib dich vor Gott zur Ruhe, und er selbst wird dich trösten. Denn es ist gut, daß sich ein Diener Gottes vor dem Herrn erniedrigt und seinen eigenen Willen verläßt. Hab aber acht, daß deine Sorge sich auf Gott richte. Und dennoch, soviel ich sehe, ist es am besten zu schweigen, ja die Demut besteht für dich im Schweigen.’ “(V, 15, 76)(Apo 1067)
Auch wenn offensichtliches Versagen vorliegt, besteht keine Notwendigkeit des Urteilens oder Ermahnens, ganz im Gegenteil:
“Einige von den Alten kamen zum Altvater Poimen und sagten zu ihm: ‘Wenn wir beim Gottesdienst Brüder einnicken sehen, willst du, daß wir ihnen einen Stoß geben, damit sie in der Vigilie wachen?’ Er erwiderte: ‘Wahrlich, wenn ich einen Bruder einnicken sehe, dann leg ich seinen Kopf auf meine Knie und lasse ihn ruhen.’ ” (Poimen 92)(Apo 666)
Diese Haltung gegenüber dem Bruder, auch und gerade, wenn er Sünder ist, bildet die Grundlage eines sehr selbstständigen und selbstbewußten Umgangs der Väter mit der Sünde und mit Sündenvergebung.
Der Altvater Abbas Lot spricht die Vergebung nach geleisteter Buße zu, denn dem Alten wurde „die Gewißheit, daß der Herr die Buße des Bruders angenommen habe“. 235Dafür gibt es noch weitergehende Belege. Die Einsicht in begangene Sünde wirkt bereits sündenvergebend:
„Abbas Poimen wurde von einem Bruder gefragt: ‘Wenn ich einem kläglichen Fehler verfalle, dann zehrt mich mein Denken auf und klagt mich an: Warum bist du gefallen?’ Der Greis antwortete: ‘Zu der Stunde, da der Mensch einem Falle unterliegt und sagt: Ich habe gesündigt, ist er auf der Stelle abgetan.’ “ (Poimen 99)(Apo 673)
Abbas Poimen hält nichts von übertriebener Buße, das Entscheidende ist die Reue:
„Ein Bruder sagte zum Altvater Poimen: ‘Ich habe eine große Sünde begangen und will drei Jahre dafür Buße tun.’ Der Greis antwortete ihm darauf: ‘Das ist viel!’ Der Bruder erwiderte: ‘Aber dann ein Jahr lang?’ Der Greis darauf: ‘Das ist viel!’ Die Anwesenden meinten: ‘Vierzig Tage.’ Und wieder sprach der Greis: ‘Das ist viel. Ich sage euch: Wenn der Mensch aus ganzem Herzen bereut und sich vornimmt, die Sünde nicht mehr zu tun, dann nimmt ihn Gott auch bei einer Buße von drei Tagen wieder auf.’ “ (Poimen 12)(Apo 586)
Ähnlich Abbas Elias:
„Was vermag die Sünde, wo Reue ist? Und was nützt die Liebe, in der Überheblichkeit ist?“ (Elias 3)(Apo 261)
Ein äußeres Zeichen der Reue sind die hochgeschätzten Reuetränen 236, denen als „Tränentaufe“ 237sündenvergebende Wirkung zugesprochen wurde:
„Ein Bruder fragte den Abbas Poimen: ‘Was fange ich mit meinen Sünden an?’ Der Greis sagte: ‘Wer sich von seinen Sünden reinigen will, der reinigt sie durch Beweinen. Und wer Tugenden erwerben will, der erwirbt sie durch Weinen. Denn das Weinen ist der Weg, den uns die Schrift überliefert hat und auch unsere Väter, indem sie sagten: Weinet! (vgl. Lk 6,21; 23, 28). Einen anderen Weg als diesen gibt es nicht!’ “ (Poimen 119)(Apo 693)
Abbas Antonios betont, daß nicht nur die Reue wichtig ist, sondern auch der Glaube an die Vergebung, so daß man auch an der Reue nicht hängenbleiben darf:
„Der Altvater Pambo fragte den Altvater Antonios: ‘Was soll ich tun?’ Der Alte entgegnete: ‘Baue nicht auf deine eigene Gerechtigkeit und laß dich nicht ein Ding gereuen, das vorbei ist, und übe Enthaltsamkeit von der Zunge und vom Bauch.’ “ (Antonios 6)(Apo 6)
R.C. Bondi bezeichnet diese Position der Apophthegmata auf dem Hintergrund der Zeit als „truly radical“ 238. Diese Einschätzung geht allerdings sehr von der westlichen Entwicklung aus, die seit Ende des 2. Jahrhunderts die kanonische Kirchenbuße für überaus schwere Sünden (Glaubensabfall, Mord, Ehebruch), einmal im Leben, kennt. Dem Bekenntnis der Sünde vor dem Bischof und in allgemeiner Form vor der Gemeinde folgte eine oft sehr lange Bußzeit mit harten Bußauflagen, die den Pönitenten u.U. lebenslang belasteten. Nach Ablauf der Bußfrist erfolgte die Wiederaufnahme (Rekonziliation) durch die Handauflegung des Bischofs bzw. der Vorsteher. Auch hier war die Gemeinde durch Fürsprache beteiligt. Die Aussöhnung mit der Gemeinde bedeutete Aussöhnung mit Gott (pax cum ecclesia = pax cum Deo). 239Diese Praxis, die bis ins 6. Jh. vorherrschte, führte im Lauf der Zeit dazu, daß diese Buße erst möglichst kurz vor dem Sterben empfangen wurde. Die Buße verschwand damit weitgehend aus dem Leben der Gemeinde, den einzelnen bot diese Bußpraxis keine Hilfe mehr zur Überwindung ihrer Schuld innerhalb des Lebens. In diese Situation hinein fällt die Bewegung der iroschottischen Wandermönche, die die wiederholbare, geheime Buße einführten, die sich, zunächst heftig bekämpft (z.B. von der 3. Synode von Toledo 589), bis um 800 durchgesetzt hatte.
Die westliche Bußtheologie zeichnet sich durch ein stark juridisches Denken aus, Genugtuung für die Schuld muß geleistet werden, die Schuld muß abgezahlt werden, damit der Büßer wieder frei ist. Dem gegenüber denkt die östliche Tradition, in der die Väter der Apophthegmata stehen, stärker „therapeutisch“ 240in ihrer Bußtheologie. Die Buße ist zur Heilung notwendig, vergleichbar mit der Arznei beim Genesungsprozeß eines Kranken. 241
Dieser Vergleich ist bei Klemens von Alexandrien grundgelegt, der die Buße einerseits als lebenslangen Erziehungsprozeß und andererseits als Heilungsvorgang beschreibt. Was für den Leib die Krankheit, das ist für die Seele die Sünde, und so wie ein kranker Leib durch Diät, Arznei und chirurgischen Eingriff geheilt werden muß, so die Seele durch Mahnung, Tadel und überführende Bloßstellung, die geradezu einer Operation der seelischen Leiden(schaften) gleichkommt. 242Dabei übertrifft die Buße des Gnostikers, die Buße des gewöhnlichen Christen. Der Gnostiker hat das Wesen der Sünde durchschaut, und unter der Führung der Vernunft läßt er von der Sünde ab. Er ist von da an nicht nur selbst von der Sünde frei, sondern kann nun den übrigen Christen Sündenvergebung erwirken. 243Neben dieser höheren Auffassung von Buße teilt Klemens auch das allgemeine Bußverständnis der Kirche des Ostens. Er bejaht die einmalige Buße als die zweite Buße nach der Taufe als letzte Ausnahme, als unumkehrbare Umkehr. 244
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