Johannes Cassian erzählt in seinen Collationes ein Beispiel, wie ein Altvater den anderen scharf zurechtweist, weil er es an Barmherzigkeit hatte fehlen lassen:
„Laßt mich ein Beispiel erzählen, ohne den Namen des betreffenden Altvaters zu nennen. Zu diesem Altvater - er ist mir bestens bekannt - kommt eines Tages ein junger Mönch, keineswegs einer der Erschlafften und Trägen, und offenbart ihm seine sexuellen Anfechtungen. Er war dadurch in großer Unruhe und glaubte nun, er werde in seiner Qual durch das Gebet des Altvaters getröstet werden und ein Heilmittel für seine Wunden erhalten. Der aber schimpft ihn mit den bittersten Worten aus, nennt ihn einen Elenden und Unwürdigen, der nicht den Namen eines Mönches verdiene, weil er sich durch ein solches Laster und seine Begierden aufreizen lasse. Durch diesen unangebrachten Vorwurf verwundet der Greis den jungen Mann zutiefst. Er schickt ihn, der tödlich verzweifelt und aufs tiefste niedergeschlagen ist, aus seiner Zelle weg. Und jener geht, schwermütig niedergedrückt. Jetzt denkt er nicht mehr an Heilmittel gegen seine Leidenschaft, sondern überlegt, wie er seine Begierden befriedigen kann. Da begegnet ihm Abbas Apollo, der bewährteste der Väter. Er schaut dem jungen Mann ins Antlitz und erkennt, welche Last ihn beschwert und welcher Kampf in seinem Innern tobt. Er redet ihn an und fragt nach der Ursache solcher Verstörung. Als dieser dem Abbas, der ihn sanft anspricht, nicht einmal eine Antwort geben kann, merkt dieser mehr und mehr, daß jener einen Grund haben muß, nicht über seine Verzweiflung reden zu wollen. Jetzt bedrängt ihn der Abbas, und der Junge bekennt, er sei auf dem Weg in ein Dorf, um sich eine Frau zu nehmen und ins Weltleben zurückzukehren, da er nach der Meinung jenes Altvaters ja doch nicht zum Mönch tauge. Er könne sich gegen den Stachel der Begierde nicht mehr wehren und wisse kein Mittel gegen solche Versuchung. Der Vater Apollo tröstet ihn aufs liebreichste und sagt ihm, er selbst werde täglich durch dieselben Stacheln sexueller Begierden gequält. Darum dürfe er nicht in solche Verzweiflung fallen und nicht erstaunt sein, daß dieser Kampf so erbittert sei. Daraus könne er lernen, daß nicht der eigene Kampfeseifer, sondern vielmehr des Herrn Barmherzigkeit und Gnade zum Sieg verhelfe. Apollo bittet den jungen Mann, einen Tag zu warten und in seine Zelle zurückzukehren.
Mit höchster Eile begibt er sich zum Kellion des erwähnten Altvaters. Als er sich dem Ort nähert, betet er mit ausgebreiteten Händen unter Tränen: ‘Herr, der Du allein der milde Richter bist, der die im Menschen schlummernden Kräfte und seine verborgenen Schwächen kennt, der Du zugleich im geheimen zu heilen verstehst, erlege die Anfechtung jenes jungen Mannes diesem Greise auf, damit er noch , im Alter belehrt werde, herabzusteigen zu den Niederlagen der Kämpfenden und mitzufühlen mit den Schwächen der Jugend!’ Mit einem Seufzer beendet er sein Gebet und sieht, wie ein Teufel vor dem Kellion steht und mit feurigen Pfeilen hineinschießt. Der Greis muß sofort verwundet worden sein, denn er stürzt heraus und rennt wie von Sinnen herum, heraus und hinein. Aufgeregt will er auf demselben Weg entfliehen, auf dem der junge Mann von dannen gegangen war. Abbas Apollo sieht, daß der Alte wie wahnsinnig ist, wie von Furien gehetzt, und begreift, daß der Feuerpfeil, den der Teufel auf ihn abgeschossen hat, ihm im Herzen steckt und diese ganze Verwirrung des Geistes und diesen Aufruhr der Sinne hervorruft. Da tritt er zu ihm und sagt: ‚Wohin rennst du, und aus welchem Grund benimmst du dich, die Würde deines Alters vergessend, wie ein Kind? Jener, ganz konfus vom Widerstreit zwischen Gewissen und schändlicher Leidenschaft, glaubt, der Altvater habe die Flamme entdeckt, die in ihm lodert, und wagt nicht zu antworten. Da sagte Apollo: ‘Kehre zurück in deine Zelle und lerne endlich, daß dich der Teufel bisher entweder gar nicht gekannt oder dich verachtet hat; offenbar zählte er dich nicht zu jenen, durch deren Fortschritte er täglich zu Kampf und Streit gereizt wird, da du nach so vielen Jahren deines Mönchseins dich unfähig zeigst, auch nur einen einzigen seiner Pfeile einen Tag lang zu ertragen oder gar zurückzuschleudern.
Der Herr hat zugelassen, daß du verwundet wurdest, damit du wenigstens im Alter lernest, Mitleid zu haben mit fremder Schwäche und vom hohen Roß herabzusteigen zur Gebrechlichkeit deiner Brüder, vor allem der jungen. Was du an dir selbst erfährst, soll dir Lehre sein. Du hast den jungen Mann, der teuflisch versucht wurde, nicht nur nicht getröstet, du hast ihn in eine schlimme Verzweiflung gestürzt und ihn, soviel an dir lag, den Händen des Feindes überlassen, daß er ihn schrecklich verschlinge. Den Jungen hätte der Teufel ganz gewiß nicht so heftig angegriffen, wie er dich zu versuchen bisher verschmähte, wenn er nicht neidisch gewesen wäre auf seinen künftigen Fortschritt. Darum beeilte er sich, die Tugend, die er in seiner Seele angelegt sah, im Keim zu ersticken. Zweifellos erkannte er ihn als den Stärkeren, da er sich die Mühe machte, ihn so heftig anzugreifen. Jetzt lerne du, mit denen, die ringen, Mitleid zu haben, die Gefährdeten nicht solch verderblicher Verzweiflung auszusetzen oder mit harten Worten rauh zu behandeln. Erquicke sie vielmehr mit sanftem und zartem Trost. Lerne aus dem Beispiel unseres Erlösers, ein geknicktes Rohr nicht zu brechen und den glimmenden Docht nicht auszulöschen (Mt 12,20) und jene Gnade vom Herrn zu erbitten, mit der du selbst vertrauensvoll singen kannst: ‘Der Herr gab mir eine kundige Zunge, damit ich durch mein Wort den zu stärken wisse, der gefallen ist’ (Is 50, 4). Nun ist erreicht, was der Herr in seiner Weisheit mit diesem Ganzen Heilsames gewollt hat! Der junge Mann sollte von seiner sexuellen Begierde befreit werden, du aber solltest eine Lehre erhalten über die Heftigkeit von Versuchungen und über die Notwendigkeit des Mitleids. So laß uns jetzt gemeinsam den Herrn anflehen, er möge diese Geißel, die über dich kam, weil sie dir nützen sollte, wieder von dir nehmen.’
Der Herr erhörte das Gebet. Die Lehre aber aus dem Ganzen: Niemandem darf man die Fehler vorwerfen, die er selbst offenbart hat. Das verlangt der Respekt vor dem Schmerz eines Mannes, der kämpft. Darum darf uns denn auch nicht die Ungeschicklichkeit oder Leichtfertigkeit des einen oder anderen Alten, dessen Greisenhaar der schlaue Feind mißbraucht zur Täuschung der Jüngeren, abschrecken. Heilsame Lehre der Väter ist: Ohne falsche Scham den Vätern alles offenlegen und von ihnen entweder Heilmittel für die Wunden oder Lebensbeispiele, wie man damit fertig wird, vertrauensvoll annehmen.“ 234
Gott selber korrigiert die Väter, wenn sie gegen diesen Grundsatz verstoßen:
„Einmal kam der Altvater Isaak von Theben ins Koinobion und sah einen Bruder, der zu Fall gekommen war, und verurteilte ihn. Als er aber in die Wüste hinausgegangen war, kam ein Engel des Herrn und stellte sich vor die Tür seines Kellions und sagte: ‘Ich lasse dich nicht eintreten.’ Er aber wandte ein: ‘Warum?’ Der Engel gab ihm zur Antwort: ‘Der Herr hat mich mit dem Auftrag gesandt: ‘Sage ihm: was soll ich mit dem gestrauchelten Bruder, den du gerichtet hast, anfangen?” Auf der Stelle bereute er und sagte: ‘Ich habe gefehlt, verzeihe mir!’ Und der Engel sprach: ‘Steh auf, Gott hat dir verziehen. Aber sei in Zukunft auf der Hut, und verurteile niemand, ehe der Herr ihn gerichtet hat.’ “(Isaak der Thebäer 1)(Apo 422)
Abbas Theodor von Pherme formuliert grundsätzlich:
„Keine andere Tugend ist wie die: keinen verachten!“ (Theodor von Pherme 13)(Apo 280)
„Ein Bruder fragte den Altvater Hierakas: ‘Sage mir ein Wort, wie ich gerettet werden kann.’ Der Greis sprach zu ihm: ‘Bleib in deinem Kellion sitzen, iß, wenn du Hunger hast, trink, wenn du Durst hast, aber sprich nicht abfällig von einem anderen, und du wirst das Heil finden.’ “ (Hierakas 1)(Apo 399)
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