Den Horizont erweitern
Dennoch ist mir die katholische Kirche die vertrauteste Konfession. Wie eine alte Tante, die bei allen Familienfesten immer dabei ist, aber die nicht unbedingt die besten Geschenke macht. Auf die Wange geküsst werden will sie trotzdem.
Durch meinen Umzug von Essen nach Berlin vor fünf Jahren und mein Studium der Religionswissenschaften habe ich meinen Horizont erweitert und kennengelernt, was das Christentum außerdem noch so alles in sich vereint. Die Familie ist gewachsen. Durch Protestanten, Orthodoxe, Kopten und Freikirchler und dann noch einmal tausend verschiedene andere Ausprägungen. Vieles war mir erst fremd und ich musste das Gemeinsame und Verbindende zwischen uns allen ein wenig suchen. Nie zuvor habe ich erlebt, dass Menschen sich so in Ekstase bringen können, dass sie ohnmächtig werden und hinterher vom Heiligen Geist erzählen. Nie zuvor habe ich Menschen in Zungen reden gehört. Nie zuvor habe ich so viele junge Leute von ihrer unendlichen Liebe zu Jesus sprechen gehört. Hatte ich vorher geglaubt, meine katholische Kirche hätte ein paar befremdlich anmutende Riten, die auf Außenstehende gruselig wirken könnten, wurde ich bei einem Erweckungsgottesdienst einer Pfingstgemeinde zunehmend entspannter: Es geht noch viel krasser. Meins war das nicht. Ich suchte weiter.
Manchmal fühle ich mich heute wie eine Nomadin. Ich wandere, bleibe mal hier stehen und mal dort, betrachte hier ein Fleckchen Erde, lese dort einen klugen Gedanken, treffe Menschen, die mir mal vertraut sind und mal fremd. Wie damals bei den Pfadfindern begebe ich mich auf Zeltplatzsuche: Wo kann ich bleiben? Wo bin ich willkommen? Wo passe ich dazu? Im religionswissenschaftlichen Jargon würde man mich wohl als eine Synkretistin bezeichnen. Ich puzzle, sammle und leihe, tausche, verschenke und teile. Ich schöpfe aus dem großen Schatz der Religionen und suche nach dem, was meinem Leben mehr Tiefe gibt. Ich suche Antworten, ein Dach für meine Sehnsüchte, mit einem Fenster, von dem aus man in den Sternenhimmel blicken kann. Weit und großartig. Das Kennenlernen anderer Konfessionen hat viel Gutes. Ich weiß meine geistliche Herkunft inzwischen stärker zu schätzen und habe gleichzeitig einen anderen Blick für das große Ganze gewonnen. Und vor allem für die vielen Möglichkeiten, die in Kirche stecken können: Einen Gottesdienstraum mit einer richtig guten Kaffeemaschine ausstatten? Warum nicht. Die Lieder nicht Lieder nennen, sondern Worship-Musik: auch eine Möglichkeit. Der Predigt mehr Gewicht geben und Hostien durch Fladenbrot ersetzen. Das ist dann vielleicht nicht mehr ganz so feierlich, aber vielleicht ein wenig ehrlicher.
Sich entscheiden müssen
Und doch: Meine Suche ist nicht weniger sehnsüchtig geworden. Noch immer vermisse ich den Kern des Ganzen. Denn obwohl ich inzwischen so viel mehr kenne an christlichem Content oder vielleicht gerade deswegen, habe ich das Gefühl, mich ständig entscheiden zu müssen. Bin ich katholisch oder evangelisch? Konservativ oder liberal? Bibeltreu oder charismatisch? Sängerin im Kirchenchor oder Leiterin der Kinderkirche? Vieles erscheint mir dabei viel zu menschengemacht, als dass ich glauben könnte, dass da ein göttlicher Gedanke drinsteckt. Ich fühle mich fremd in einer Kirche, in der es Schubladen gibt, aber keine Regale. In der keine Offenheit herrscht, Regalbretter zu versetzen, bis eben genug Platz für den Inhalt ist. Fremd in einer Kirche, in der Regale als zu offen empfunden werden, zu einsehbar, nicht zum üblichen Mobiliar passend.
Ich habe verschiedene Gemeindeformen ausprobiert, um herauszufinden, wen wir hier eigentlich anbeten, warum und in welcher Form. Ich habe das ernst gemeint mit dem goldenen Kern, mit der Suche nach dem ultimativ Guten, das ich gerne Gott nenne. Und habe dennoch wieder gemerkt: Die meisten Kirchen drehen sich nur um sich selbst und darum, ihre Schubladen zu füllen, sie sorgsam zu verschließen und zu etikettieren – manche mit Masking Tape, andere in guter alter Excelmanier.
Deswegen frage ich mich: Wo ist der Raum für uns, die sich irgendwie dazwischen fühlen und die in keine der bestehenden Schubladen so recht reinpassen wollen? Die aus einer Tradition kommen, aber nicht bei ihr stehengeblieben sind? Die an Gott glauben, aber gleichzeitig auch Zweifelnde sind? Die Jesu Botschaft für eine ziemlich großartige Message halten und die, wenn sie von ihrer großen Liebe sprechen, trotzdem nicht allein Jesus meinen. Die die Worte der Bibel schätzen und sie dennoch nicht als einen Tatsachenbericht lesen, sondern als ein Angebot zum Weiterdenken. Wo ist unser Platz?
Viele meiner Freundinnen und Freunde aus der Pfadfinderzeit, der Messdienergruppe und der Firmvorbereitung haben der Kirche längst den Rücken gekehrt. Weil auch sie sich nicht mehr zugehörig gefühlt haben. Oder die Kirche nicht mehr zugehörig zu ihrem Leben. Sie haben eine andere Richtung eingeschlagen, haben ihre Mitgliedschaft gekündigt, leben ein zufriedenes Leben, jedenfalls hoffe ich das. Vielleicht ist ihr Leben einfacher geworden. Sie müssen sich nicht mehr auseinandersetzen mit den Grenzen unserer Kirche, den Vorwürfen und dem oft schlechten Image aus weltlicher Sicht. Wenn ich nicht mehr dazugehöre, muss ich mich auch nicht rechtfertigen, ärgern, einen langen Atem haben. Manchmal finde ich das beneidenswert, und doch bin ich zu sehr in die Idee eines goldenen Kerns verliebt, als dass ich meine Sehnsüchte ganz einfach ausblenden könnte. Denn es gibt sie immer wieder: die kleinen Funken, die mich an den Ursprung des Ganzen erinnern. Manchmal sind sie so schnell verflogen, wie Wunderkerzen brennen, aber der Geruch nach Feuer und Eisenpulver bleibt noch eine ganze Weile in der Luft hängen und lässt mich nicht los.
Bei den Wurzeln beginnen
In solchen Momenten überlege ich dann manchmal, ob die Suche nicht auch eine Chance sein kann. Denn sie hält den Blick wach und das Herz. Sie macht offen für Wandel und für Wunder. Und sie beginnt immer vor allem bei mir selbst. Denn meine Sehnsucht ist am größten, wenn ich mir selbst fehle. Wenn ich nicht mehr weiß, was mich ausmacht. Wenn die Zweifel übergroß scheinen und ich so erschöpft bin, dass mir nicht mehr klar ist, was mich hält und schützt, mich segnet und beseelt. Das Gefühl des Verlassenseins in der Welt bringt mich zurück zu der Idee des ultimativ Guten, zurück zur Quelle der Kunst, der Schönheit, der Liebe. Zurück zum Vater, zum Sohn, zum Heiligen Geist, der schon zu Beginn meines Lebens eine Bedeutung für mich erhielt. Damals nämlich, als mir Wasser über das babyflaumbedeckte Köpfchen gegossen und ein Kreuzzeichen auf die Stirn gemalt wurde. Seitdem bin ich Teil dieser Großfamilie aus Christinnen und Christen, was längst nicht immer leicht ist; aber das hat ehrlicherweise ja auch niemand behauptet.
Bei den Pfadfindern haben wir früher oft von „back to the roots“ gesprochen. Zurück zu den Wurzeln, auf den Boden der Tatsachen, alles zurück auf Anfang. Und im Anfang war das Wort, heißt es. Und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort. So beginnt das Johannesevangelium, und vielleicht sind das meine Lieblingszeilen der Bibel. Weil sie mich berühren, mich in meinem goldenen Kern treffen, vom Anfang erzählen und von Gott und vom Wort. Seit ich denken kann, bin ich ein Buchstabenmensch. Immer waren es geschriebene Worte, die mein Leben begleiteten und beglückten. Erst wurden sie mir vorgelesen, dann las ich sie selber, dann begann ich eigene aufzuschreiben. Schon ganz früh war es mein allerliebstes Hobby, meine kleine Leidenschaft, im Dachgeschosszimmer im Haus meiner Kindheit auf dem Computer, damals Betriebssystem Windows 97, Geschichten zu schreiben. Viele wurden lang und länger, erzählten von dem, was ich sah und erlebte, durchmischt mit einer ordentlichen Portion Fantasie.
Im Markusevangelium heißt es: Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt. Ich erkannte schnell: Alle Dinge sind möglich dem oder derjenigen, der oder die sie schreibt.
Читать дальше