Hanna Buiting
Worte statt Orte oder: Wie ich anfing, meine Kirche neu zu buchstabieren
Das Shirt unter dem Rucksack ist nass vor Schweiß, die Füße freuen sich, endlich nackt durch hohes Gras zu laufen, und flockiges Kartoffelpüree mit Paprikapulver, gekocht auf einem Camping-Kocher, ist ein echtes Festessen. Es ist ein Sommer vor einigen Jahren. Wir sind gemeinsam unterwegs. Mit Rucksäcken, in denen sich unser Hab und Gut für zwei Sommerferienwochen befindet. Mit klobigen Schuhen an den Füßen, die wir in der Innenstadt niemals tragen würden, die im Gebirge aber ganz okay sind. Mit einem grünen Halstuch um den Hals, das anzeigt, dass wir Pfadis sind und zusammengehören. Außerdem teilen wir Mückenstiche. Auch sie verbinden uns. Das Fenistil-Gel wandert zwischen uns hin und her. Eins für alle und alle für eins. Wir sind eine kleine Gemeinde. Pfadfinderinnen und Pfadfinder auf dem Weg durch Frankreich. Und ich bin eine von ihnen.
Wenn ich heute überlege, wie ich mir Kirche wünsche und wie ich sie in der Wirklichkeit erlebe, dann denke ich manchmal an unseren Pfadfinder-Hike durch Frankreich zurück. Zwölf Jugendliche und drei Erwachsene. Wir reisen mit leichtem Gepäck und schlafen doch im Tausend-Sterne-Hotel. Unsere Handys liegen zu Hause, und doch ist alles in uns auf Empfang gestellt. Wir teilen. Lebensmittel und Lebensmitte. Wir singen, bevor wir in unsere Schlafsäcke kriechen und das Lagerfeuer nur noch glimmt: „Der Himmel wölbt sich übers Land. Gut Nacht, auf Wiedersehen. Wir ruhen all in Gottes Hand. Gut Pfad, auf Wiedersehen“, und fühlen uns wunderbar geborgen. Wir brauchen nicht viel zum Glücklichsein. Weniges genügt uns. Wir genügen einander. So wie wir sind. Jetzt gerade.
Nach zwei wunder-vollen Wochen kehren wir nach Hause zurück in den Schatten des Kirchturms, von dem aus wir losgelaufen sind. Der Sommer hat uns verändert. Innerlich und äußerlich. Wir kehren zurück mit Sommersprossen im Gesicht, Lagerfeuerliedern im Ohr und ein paar Aufnähern mehr an der Kluft. Unsere grünen Halstücher tragen wir mit Stolz. Im Sonntagsgottesdienst erwähnt der Priester kurz, dass wir wieder da seien. Alle wohlbehalten zurück im Schoße der Gemeinde. Diese Worte wählt er tatsächlich. Der Rest des Gottesdienstes zieht an uns vorüber, hat nichts mehr zu tun mit Zeltplatzsuche, Blasen an den Füßen und ersten Küssen am Lagerfeuer. Hat nichts mehr zu tun mit uns. So jedenfalls fühlt es sich an. In den darauffolgenden Wochen gehe ich nicht mehr in die Kirche.
Keinen Platz haben
So war es schon oft in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, größte Gotteserlebnisse zu machen, habe gestaunt und gebetet, gezweifelt und geweint. Nur in meiner Kirche schien kein Platz dafür zu sein. Immer war da eine Grenze, oft unsichtbar, manchmal mehr als sichtbar. Du bist „eingeladen zum Fest des Glaubens“, aber sei bitte nicht so laut, nicht so forsch, nicht so fragend. Fürbitten vorlesen, okay, aber eine Predigt halten? Du weißt schon, dass wir uns hier in der katholischen Kirche befinden, oder? Und du bist eine Frau.
Ich muss wohl ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein, als mir bewusst wurde: Ich bin zwar irgendwie willkommen in der Kirche, ja, ich werde sogar gebraucht, zwischen all den Silberschöpfen und Talarträgern, aber richtig was zu sagen habe ich nicht.
Dabei hätte ich wohl etwas zu sagen oder zu geben gehabt. Auch als Zwölfjährige schon. Mit einem Kopf in den Wolken, Fantasie bis zum Himmel und einer Liebe zum geschriebenen Wort. In einen Kindergottesdienst wollte das nicht so recht passen, dort regierten die Mitmach-Mamas, und die hatten ihre ganz eigenen Vorstellungen und vor allem ihre Verliebtheit in den Herrn Pastor. Und da kommt keiner so leicht dazwischen. Den großen Gläubigen, den treuen Schafen, die sich Sonntag für Sonntag auf den unbequemen Kirchenbänken niederließen, hätte ein zwölfjähriger Blick vielleicht mal ganz gutgetan, doch sie suchten die Stille, die Tradition und den Weihrauch. Auch dort kein Platz für die Gedanken einer Sechstklässlerin. Und so blieb ich irgendwo dazwischen. Ungesehen. Ein Lämmchen unter vielen.
Manchmal wundere ich mich im Rückblick, warum mir nicht längst die Puste ausgegangen ist. Hinter mir liegt ein langer Weg, dabei bin ich erst 24. Eine katholische Biographie, die ich wohl mit vielen anderen teile. Getauft im Alter von drei Monaten, aufgewachsen mit den Traditionen und Texten des Christentums. Mehr als einmal war ich die Maria im Krippenspiel, außerdem Erstkommunionkind, Messdienerin, Sternsingerin, Pfadfinderin, Firmling. Und dann auf einmal erwachsen, jedenfalls fühlte ich mich so, und damit irgendwie obdachlos. Meine Kirche kein schützendes Zelt mehr, von dem aus man, wenn man das Verdeck ein bisschen öffnet, die Sterne sehen kann. Stattdessen ein Raum, der mir zu eng erschien für meine Gedanken und für mein Gottesbild. Was mir all die Jahre Halt und Struktur gegeben hatte, fühlte sich auf einmal nicht mehr zu mir passend an. Zu viel hatte ich auf dem Weg bis hierhin erlebt. Zu viele Menschen hatten meinen Weg gekreuzt, die dieser Kirche mehr als skeptisch gegenüberstanden oder ablehnend. Zu oft hatte ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen für Dinge, die mit meinem Leben und vor allem mit meinem Glauben doch so wenig zu tun hatten: kein Sex vor der Ehe, Missbrauchsfälle in Klosterschulen, größenwahnsinnige und geldgierige Bischöfe. Zu oft konnte ich über die weltfremden Worte, die in der Predigt fielen, nur den Kopf schütteln oder wütend die Zähne aufeinanderbeißen, bis mein Kiefer schmerzte. Und auch mein Herz.
Den Kern suchen
Dieses Dazugehören und gleichzeitige Danebenstehen war oft ganz schön herausfordernd. Doch was mich am meisten störte, war die Tatsache, dass all die heiß diskutierten oder totgeschwiegenen Themen nichts mehr mit dem Kern zu tun hatten. Dem goldenen, der, wenn man ihn ins richtige Licht hält, glitzert und funkelt und mein Menschenleben überstrahlt.
Vielleicht ist der Glaube an diesen goldenen Kern das, was mir einen langen Atem geschenkt hat, sodass mir bis heute nicht die Puste ausgegangen ist, ich mich weiterentwickelt habe. Früher war ich Pfadfinderin, heute bin ich Pfadsucherin. Ich bin eine Suchende. Eine Sehnsuchende. Denn ich glaube noch daran. Daran, dass es eine große, schöpferische Kraft gibt, die es gut mit uns meint, die meinem Leben eine weite Perspektive schenkt und einen tieferen Sinn. Ein großes Geheimnis, das mich wandern und wundern lässt und das ich gerne Gott nenne. Eine Quelle der Kunst, der Schönheit, der Liebe, ein Angebot an die Menschheit, das Angebot des ultimativ Guten, nach dem ich sehnsüchtig bin und suche. Immer wieder.
Doch diese Suche findet nicht mehr allein im Rahmen der Kirche statt, in die ich hineingeboren und hineingetauft wurde. Mein Weg hat mich scheinbar von ihr fortgeführt, und doch begegnen wir uns immer wieder mal. Vor allem immer dann, wenn ich die Hoffnung habe, doch noch Anknüpfungspunkte zu finden, oder immer dann, wenn ich mich mal wieder über sie ärgere. Oder besser gesagt, über die Menschen, die sich die Kirche zu eigen machen, um sich selbst zu profilieren, sich von anderen abzugrenzen und dabei aus dem Blick zu verlieren scheinen, dass sie damit auch Menschen aus ihren eigenen Reihen ausgrenzen. Exkommunizierung eines Geschiedenen. Kündigung einer Kindergartenleiterin, weil sie es gewagt hat, sich in einen anderen Mann zu verlieben. Ablehnung eines homosexuellen Paares. Als sei die Kirche wirklich in der luxuriösen Lage, Leute, die aufrichtig glauben und vor allem aufrichtig lieben, ausschließen zu können.
Ich selbst war bisher nie direkt von den Einstellungen der Kirche zu Liebe, Sex und Partnerschaft betroffen und dennoch machen sie mich betroffen. Weil ich mir mehr Offenheit wünsche und mehr Rückbesinnung auf die Kerngedanken unserer Religion. Die Liebe ist stärker als der Tod. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Ganz schön viel Liebe für eine Religion. In der Kirche spüre ich sie nur selten. Höchstens die Selbstliebe. Die vielleicht auch wichtig ist, aber eben nicht nur.
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