Die geschilderten Entwicklungen fordern die akademische Theologie heraus. Karl Adams 1924 erschienenes Buch „Das Wesen des Katholizismus“ ist ein Manifest der kirchlichen „Leib Christi“-Ekklesiologie und wird ein internationaler Bestseller. 39Adam nimmt die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Hinwendung zur „strotzenden Lebenskraft, dieser ewigen Jugend der alten, uralten Kirche“ 40auf und kennzeichnet sie im Anschluss an Möhler und Scheeben als Auswirkung Christi „gottmenschlichen Wesens in der Geschichte“ 41. Dabei verteidigt er die hierarchische Struktur der Kirche, die sich von ihrem Haupt und den Aposteln her aufbaut. 42
Mannes Kosters Lehrer, der Bonner Theologieprofessor Arnold Rademacher, reflektiert in seinem ekklesiologischen Ansatz, der vom organologischen Denken geprägt ist, die gemeinschaftliche und gesellschaftliche Dimension der Kirche. 43Ähnlich wie Möhler erkennt Rademacher in der gesellschaftlichen Dimension einen notwendigen Ausdruck des inneren Lebens. Organismus und Organisation verhalten sich zueinander wie Wesen und Erscheinung. 44In Analogie zur hypostatischen Union von Gottheit und Menschheit Christi ist die Kirche als Leib Christi der „fortlebende Christus“. 45Die irdische Erscheinung der Kirche verweist auf das Geheimnis der Gottheit, verhüllt es aber zugleich auch. 46
Joseph Ternus wendet sich gegen die übergroße Bedeutung des Begriffs „mystischer Leib Christi“ und bestreitet die Möglichkeit einer angemessenen Wesensaussage über die Kirche. 47„Leib Christi“ ist für ihn ein guter Begriff zur Bezeichnung der innerlichen Seite der Kirche. 48Zugleich warnt Ternus vor „überspannten Ganzheitsspekulationen“ 49und wendet sich gegen die in der Jugendbewegung vorkommenden Vorstellungen von der Kirche als „Kollektivperson“ 50.
Im Jahr 1940, in dem Kosters Schrift „Ekklesiologie im Werden“ erscheint, zeigt sich die ganze Bandbreite der ekklesiologischen Diskussion. Sie ist gekennzeichnet von der Suche nach einer „tiefen und ganzen Theologie“ 51, die durch die neuere Erforschung von Schrift, Vätertheologie und Scholastik bereichert wird. 52
Zum einen sorgt die Schrift „Der Christ als Christus“ des Priesters Karl Pelz für Diskussionen. In ihr wird die Differenz zwischen Christus und den Gläubigen aufgehoben, so dass beide eine einzige mystische Person bilden. 53Zum anderen erscheint unter dem Titel „Der Katholizismus der Zukunft“ eine anonyme Schrift, die in der Tradition Heilers eine reine Geistkirche gegen jede geschichtlich kontingente Form des äußeren Ausdrucks der Kirche propagiert. 54
Gegen eine solche gewagte, modische Verwendung des „Leib Christi“-Begriffs stellt Ludwig Deimel 1940 eine sachliche Kritik. Er führt das Bild des „Leibes“ auf seine ursprüngliche biblische Bedeutung zurück und bestreitet mit Blick auf die in Schrift und Tradition enthaltenen vielfältigen Ausdrücke für die Kirche dessen Monopolstellung. 55Ebenso kritisiert er den aus seiner Sicht unbiblischen Zusatz „mystisch“ als missverständlich 56und weist auf die Notwendigkeit des analogen Gebrauches biblischer Bilder hin. 57Deimel befürchtet eine Engführung der Kirche auf „Motive zum persönlichen Heiligungsstreben“, die „sakramentale Welt“ und das „liturgische Tun“. 58Die Kirche ist notwendig gesellschaftlich verfasst und durch Charismen und Hierarchie gegliedert. 59Ist „Leib Christi“ auch ein wichtiger Begriff zur Beschreibung der Kirche, weil er den Zusammenhang von innerem und äußerem Leben verdeutlicht, bedarf er doch der Ergänzung durch die Bilder der „Braut Christi“, die das Gegenüber von Christus und Kirche zum Ausdruck bringt 60, sowie der „Familie Gottes“ als Kennzeichen der sozialen Realität der Kirche. 61
Yves Congar veröffentlicht im 1940 erschienenen Sammelband „Die Kirche Christi“ 62einen heilsgeschichtlich orientierten ekklesiologischen Entwurf. Im Anschluss an das Vorbild des „Volkes Gottes“ des Alten Bundes begründet Christus als neuer Adam das „neue Volk Gottes“, indem er den Gläubigen die Teilnahme an der Lebensgemeinschaft mit Gott neu ermöglicht. 63Hieraus entsteht die Kirche als „mystischer Leib Christi“, in dem das „pneumatische Leben“ in Christus seinen angemessenen Ausdruck findet. 64Es kann für Congar keine Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche geben. Die Kirche ist wesenhaft „sakramental“ 65und verbindet so das innerlich-gemeinschaftliche und äußerlich-gesellschaftliche Leben der Kirche zu einer einzigen komplexen Wirklichkeit. 66
Erich Przywara legt im gleichen Jahr eine Übersicht über die umfangreichen Veröffentlichungen vor, die das „Corpus Christi Mysticum“ behandeln. In seiner Bilanz hebt auch er die Notwendigkeit der Überwindung des Dualismus’ von Innen und Außen, Transzendenz und Immanenz in der Betrachtung der Kirche als „Leib Christi“ hervor und sieht die Gefahr einer pneumatischen Verengung. 67Die Kirche ist für Przywara „werkzeugliche Repräsentation und repräsentierende Werkzeuglichkeit“ 68Gottes. Der unendliche Abstand zwischen Gott und der Kirche bewirkt, dass sich die Kirche nicht anders zu Gott verhalten kann als die menschliche Natur Christi zu ihrer göttlichen. Sie dient Gott dazu, durch die Sendung der Gläubigen in die Welt hinein zu wirken. 69Für diesen Dienst bildet die Kirche ihre innerweltliche Wirkweise in Leben und Dienst der Gläubigen, in Lehre, Amt und Rechtsordnung aus. 70Bei Przywara kündigt sich so die kommende Bedeutung des Begriffs „Sakrament“ an, ein Begriff, der für ihn in der Lage ist, eine Synthese zwischen der unsichtbar-gnadenhaften Seite der Kirche und ihrer sichtbargesellschaftlichen Dimension zu schaffen. Dabei bedient sich Przywara der Analogie des inkarnatorischen Geschehens und der beiden Naturen Christi. 71
Die hier nur kurz vorgestellten Entwürfe des Jahres 1940 geben einen Eindruck in das geistige Umfeld, in dem Kosters Beitrag zu verorten ist. Im Zuge des Ringens um einen Neuansatz der systematischen Ekklesiologie versteht er seine Schrift „Ekklesiologie im Werden“ als einen Diskussionsbeitrag zur aktuellen Debatte. 72So findet sich bei ihm neben der kritischen Bewertung der zeitgenössischen Theologie des „corpus Christi mysticum“ ein eigenständiger und origineller Ansatz durch die Einführung eines neuen ekklesiologischen Zentralbegriffes, nämlich „Volk Gottes“. 73
1.1.2 „Ekklesiologie im Werden“
Kosters Werk „Ekklesiologie im Werden“ versucht, einen neuen Weg zu einer systematischen Ekklesiologie zu bahnen. Dies ist laut Koster notwendig um den Status einer „vortheologischen Kenntnis der Kirche“ 74zu überwinden, die er in den zahlreichen seelsorglich und geistlich motivierten Aktivitäten und Schriften etwa der Jugendbewegung, wie auch der Liturgischen Bewegung vorfindet. Die Ekklesiologie, zeitgenössisch als Sehnsucht zu einem umfassenderen Begriff und einer tieferen Erkenntnis der Kirche zu verstehen, ist, so Koster, derzeit im „Werden“ (154f). Die von Koster als Vorstadien zu einer theologischen Neubestimmung gekennzeichneten geschichtlichen Entwicklungen sind seiner Ansicht nach auf drei wesentliche Begriffe zurückzuführen, die dem jeweils zeitgemäßen Verständnis der Kirche dienen sollen: die Kirche „in ihrer Rechtsordnung“, wie sie in der neuscholastischen, apologetischen Ekklesiologie zu finden ist, die Kirche als „Leib Christi“ und als „Kultgemeinschaft“(12). Mit diesen Begriffen verbinden sich für Koster bestimmte Vorstellungen. Hinter der Kirche in der Rechtsordnung verbirgt sich der Begriff des „Volkes Gottes“, hinter „Leib Christi“ die Idee des „Organismus“, welche jedoch den zumeist im Verbund mit der „Leib Christ“-Theologie anzutreffenden „verhüllten Solidarismus“ nur scheinbar verdeckt (12). Damit verbunden steht hinter der „Kultgemeinschaft“ ein „liturgischer Solidarismus“ (13). Auf der Suche nach einem umfassenden theologischen Begriff der Kirche habe die Theologie bisher, so Kosters Kritik, zumeist oder sogar ausschließlich auf den „Leib Christi“-Begriff zurückgegriffen. Er sieht hierin eine fälschliche Ineinssetzung einer vortheologischen Vorstellung der Kirche mit dem Begriff, der theologischen Definition der Kirche in ihrer Gesamtheit (14). Von dort aus stellt Koster der Theologie seiner Zeit ein schlechtes Zeugnis aus: „Die Ekklesiologie unserer Tage befindet sich noch im vortheologischen Zustand“ (15). 75Sie wählt einen Teil der kirchlichen Glaubensanschauung, des Glaubensschatzes, zur Bestimmung der Kirche als Ganze aus (18). 76Diese Entwicklung hat laut Koster ihren Ursprung in der vornehmlich apologetisch geprägten Ausrichtung früherer Ekklesiologien. Die Kirche wird gegen ihre Kritiker in Schutz genommen und Einzelaspekte besonders betont (24f, 26f). Ziel einer theologischen Neubestimmung wäre jedoch die Erfassung der Totalität der Kirche aus dem Gesamt des Glaubensschatzes (16), sprich, die Suche nach einem Begriff, der das Gesamt der kirchlichen Wirklichkeit angemessen und umfassend wiedergeben könnte (18, 31). Diese Suche liegt, so Koster, angesichts des fortschreitenden Bedürfnisses aller Teile der Kirche zur Bewusstwerdung ihrer selbst gewissermaßen in der Luft (85, 89). Wie also lässt sich der „Gemeinschaftscharakter“ der Kirche theologisch umfassend bestimmen? Wie kann die Kirche als eine „konkrete, wirkliche, im Diesseits stehende und doch nicht in ihm beheimatete Gemeinschaft“ (25f) begriffen und verstanden werden? Vorarbeiten hierzu möchte Koster in seiner Schrift leisten (22, 153).
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