In der aktiven seelsorglichen Tradition der Jesuiten sieht sich auch CCN. Die Konstitutionen weisen darauf hin, die Gemeinschaft existiere nicht um ihrer selbst willen, sondern habe sich das Ziel gesteckt, die christliche Botschaft zu verbreiten:
„Unsere Gemeinschaft hat also ihr Ziel nicht in sich selbst. Die Freude, Brüder und Schwestern in Jesus Christus zu sein, ist nur so groß, wie unser gemeinsamer Wunsch, die Frohe Botschaft von der Auferstehung den Menschen zu bringen.“ 194
Die Evangelisation 195wird in den Konstitutionen als essentielles Element angesehen, dem sich alles andere unterordnen muss:
„Dieses Grundelement, die Evangelisation, bezieht die anderen Elemente wie Fortbildung, gemeinsames Leben, Liturgie […] je nach ihrer Notwendigkeit mit ein; doch müssen all diese Aspekte relativ bleiben und der Evangelisation, die Priorität hat, untergeordnet sein.“ 196
Der Duktus der Vorstellungsbroschüre lautet ähnlich:
„Als Antwort auf die Berufung, die Liebe Christi allen Menschen zu verkünden, hat die Gemeinschaft seit ihrer Gründung den Auftrag zu evangelisieren. Sie hat außerdem den Auftrag, die Christen zur Stärkung ihres Glaubens zu schulen und ihnen Wege zu eröffnen, sich zu engagieren, und sie in ihrer Verantwortung im Dienst der Kirche und der Gesellschaft zu unterstützen.“ 197
Das aktive Apostolat wird in dieser Broschüre als Erbgut der Gemeinschaft bezeichnet, welches schon im Gründungsimpuls enthalten war. Fabre betrachtet es geradezu als eine Gefahr für die Kommunität, sich an den Rand der Gesellschaft zu stellen und sich von der Welt und ihren Kämpfen zurückzuziehen. Die Flucht aus der Welt ist für ihn keine Option. 198Die Kommunität wird nicht müde hervorzuheben, dass man sich als eine apostolische Gemeinschaft betrachtet, die im Dienst der Welt und der Ortskirche steht. 199Diese Ausrichtung wird mit der ignatianischen Tradition in Verbindung gebracht. Die beanspruchte geistige Verwandtschaft zur Ordenstradition der Jesuiten in Bezug auf die apostolische Ausrichtung kann man durchaus gelten lassen. Bei diesem Teil aus dem ignatianischen Erbgut handelt es sich allerdings um eine Gesinnung, die von Natur aus wenig quantifizierbar ist. Im nächsten Abschnitt sollen beispielhaft konkrete Seelsorgemethoden und Frömmigkeitsübungen verglichen werden.
2.2.2.2 Transformiertes Ideengut
Ein wichtiges Instrument in der Seelsorge waren und sind für die Jesuiten die Geistlichen Übungen. 200Die Exerzitien enthalten die religiösen Erfahrungen des Heiligen Ignatius von Loyola, wie er sie bei seiner eigenen Bekehrung gewonnen hat. 201Im vollen Umfang dauern die Geistlichen Übungen 30 Tage, jedoch hatte bereits Ignatius die 7-tägigen Exerzitien als eine weitere Möglichkeit vorgesehen. Das Ziel für die Exerzitanten besteht darin, in Objektivität und Freiheit des Geistes und unter göttlicher Inspiration eine Entscheidung für ihr Leben zu treffen. 202Als Instrumentarium zum Erreichen dieses Zieles dienen biblische Betrachtungen, die Methode zur Unterscheidung der Geister, die tägliche Gewissenserforschung, die Generalbeichte und ein geistliches Begleitungsverhältnis. Bei den 30-tägigen Exerzitien ist die erste Woche einer Standortbestimmung des eigenen Lebens gewidmet. Der Exerzitant soll sich darüber Klarheit verschaffen, ob eine Veränderung im äußeren Lebensrahmen oder bei den Zukunftsperspektiven nötig oder wünschenswert ist. Die Struktur der zweiten bis vierten Woche folgt der Geschichte Jesu, wie sie das Neue Testament vorgibt. In der zweiten Woche betrachtet man das Leben Jesu, seine Lehrtätigkeit und seine Wunder. Die dritte Woche beginnt mit dem Abendmahl und schließt mit der Grablegung ab. Die vierte Woche beinhaltet die Auferstehung und alle darauf folgenden Ereignisse. Diese Betrachtungen werden nicht als ein rationaler Prozess dargeboten, sondern sollen den Exerzitanten affektiv ansprechen. 203
Auch für CCN spielen die Exerzitien eine herausgehobene Rolle. Die Konstitutionen fordern jedes CCN-Mitglied auf, einmal im Jahr die siebentägigen Exerzitien zu besuchen. Vor einer verbindlichen Aufnahme in die Kommunität absolviert der Aufnahmekandidat die 30-tägigen Exerzitien. 204Nicht nur die CCN-Vollmitglieder durchlaufen die Exerzitien, auch den Teilnehmern an Weiterbildungsprogrammen 205oder den Studenten in den von CCN geführten Wohnheimen wird die Teilnahme an den Exerzitien nahegelegt. 206Neben der geistlichen Formung der CCN-Mitglieder und Sympathisanten stellen die Exerzitien einen Teil des verbandlichen Apostolats dar. In der Broschüre „Formation Chretienne“, in der CCN unter interessierten Gläubigen für Kurse und Veranstaltungen wirbt, werden über das Jahr verteilt in verschiedenen französischen Städten elf Angebote für die siebentägigen Exerzitien unterbreitet und ein Kurs der 30-tägigen Exerzitien angeboten. 207In Deutschland werden die ignatianischen Exerzitien in der CCN-Niederlassung in Berlin-Lankwitz gehalten und richten sich an die Verbandsmitglieder sowie an außenstehende Interessenten. 208
In einer Sonderausgabe des FOI, die der ignatianischen Spiritualität gewidmet ist, 209werden unter anderem die CCN-Exerzitien vorgestellt, was einen Einblick in die Ausgestaltung der Geistlichen Übungen durch CCN und einen Vergleich mit dem ignatianischen Original erlaubt. Christophe Blin, ein Priester der Gemeinschaft CCN, Mitglied des französischen Nationalteams und Exerzitienmeister, 210beschreibt, welche Ziele und Methoden er mit den Exerzitien verbindet und wo er Parallelen mit dem ignatianischen Vorbild sieht. Er meint, die Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung sei ein Gedanke, in dem ignatianisches und charismatisches Gedankengut konvergieren. Bei den Exerzitien erlebe der Einzelne die Präsenz Gottes durch den Heiligen Geist in einer existentiellen und unmittelbaren Ergriffenheit. Das Ziel der ignatianischen Exerzitien besteht darin, die Teilnehmer zu einer Lebensentscheidung zu führen. Der Exerzitant soll eine Wahl treffen und im Idealfall sein Leben in Gottes Hände legen. Christophe Blin deutet dieses als eine Parallele zur Taufe im Heiligen Geist. Auch diese stelle eine Art Lebensübergabe dar. Der Empfang der Taufe im Heiligen Geist wird den Teilnehmern nahegelegt. 211Der CCN-Exerzitienmeister Christophe Blin versteht die theologischen Ansätze der mehrere jahrhundertealten ignatianischen Exerzitien nicht nur als mit den Ideen der neuzeitlichen pfingstkirchlichen Frömmigkeit vereinbar, sondern entdeckt darin auch konfessionsübergreifende bzw. -verbindende Elemente. Die zentrale Rolle des Wortes Gottes, die Freiheit des Gewissens und die Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung machten die Exerzitien für Christen protestantischer Konfession interessant. 212Die Exerzitien werden bei CCN im Dienst der Ökumene gesehen. Vétö Étinne, der als CCN-Mitglied sowie Philosoph und Theologe vorgestellt wird, verknüpft die ignatianischen Exerzitien mit einer noch anderen Denkrichtung der neuzeitlichen Geistesgeschichte. Er verbindet die geistlichen Übungen mit psychologisch-therapeutischen Ansätzen. Mit Begriffen wie innere Heilung, Aufarbeiten von Schuld, Befreiung und Heilung innerer Verletzungen werden die ignatianischen Exerzitien mit Vorstellungen aus dem Bereich der ganzheitlichen Medizin und heilenden Seelsorge verflochten. 213
Das Instrument der Exerzitien hat durch die Jahrhunderte verschiedene Ausgestaltungen erfahren und ist weiterentwickelt worden. 214Eine Weiterentwicklung im Denkrahmen der neuzeitlichen Theologie und Frömmigkeit ist pastoral durchaus legitim. Ob das Etikett „ignatianisch“ auf die Ausgestaltungsvariante der CCN-Exerzitien noch passt, ist allerdings fragwürdig. Die Schilderungen der beiden CCN-Exerzitienmeister lassen erkennen, dass CCN zwar das ignatianische Seelsorgemittel der Exerzitien übernommen hat, die Geistlichen Übungen aber mit neuem Gedankengut füllt. Charismatische Konzepte, ökumenische Impulse und Anregungen aus dem Bereich der therapeutisch-ganzheitlichen Seelsorge werden bei CCN in die Exerzitien eingebracht. Das geht weit über die ursprünglichen ignatianischen Inhalte hinaus. Es ist zu fragen, ob man hier von einer authentischen ignatianischen Tradition sprechen kann. Treffender erscheint es, von einem transformierten ignatiani-schen Ideengut zu sprechen.
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