3Im Verlauf dieser Zeit hatte er sich als Polizist zahlreichen Normen und Rahmenbedingungen beugen müssen, hatte jedoch im jungen und mit einem relativ personalarmen Polizeikorps ausgestatteten Kanton Graubünden auch seinen Teil zur Konstituierung des sich entwickelnden Polizeisystems beigetragen. Dies, indem er entweder mit einem richtlinienkonformen Verhalten zu einer Verdichtung geltender Rahmenbedingungen beigetragen oder aber bei der Bewältigung des Alltags einen eigenen, neuen Interpretations- oder Vorgehensweg eingeschlagen hatte, welcher von der Polizeileitung entweder akzeptiert, nicht entdeckt oder im schlimmsten Fall als deviant erklärt und sanktioniert wurde. Aus der Retrospektive ist das Verhältnis, in dem Landjäger Guler am Tag des zitierten Rapports zu diesem System stand, nur zu vermuten. Erfahrbar gemacht werden in seinem Bericht dagegen die arbeitsbedingte Trennung von der Familie und ein sich in seiner Anfrage widerspiegelndes Untertanenverhältnis. Die angesprochene Kündigungsabsicht lässt den Hauch einer gewissen Wehmut anklingen, was Zwänge und Nöte, in denen sich der Landjäger befand, erahnen lässt. Landjäger Jakob Guler hing offenbar durchaus an der Beamtenstelle. Jedoch weiss man nicht, ob er sich mit derselben auch innerlich identifizieren konnte oder ob dafür in einer von Armut geprägten Zeit eher finanzielle Gründe ausschlaggebend waren. Hier konzentrieren sich einerseits die sich wechselseitig beeinflussenden Fragen des Soll- und des Ist-Zustands, andererseits auch diejenigen nach der Zufriedenheit und der Identifikation mit dem System. Um die Beantwortung dieser Fragen soll es in der folgenden Untersuchung gehen. Das Interesse gilt insofern einem Bereich der Bündner (und Schweizer) Alltagsgeschichte, welcher bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist.
2 Reglement für ein aufzustellendes Piquet Landjäger, Mai 1804.
Begonnen wird dieser Einleitungsteil zuerst mit einem kurzen Abriss zum historischen Kontext des sich konstituierenden Polizeikorps. Danach wird mit dem theoretischen Rahmen weitergefahren, in welchem auch die gegenwärtige polizeigeschichtliche Forschungslage zur Sprache kommt. Im dritten Kapitel dieses Einleitungsteils folgen die Angaben zum methodischen Vorgehen, das sich aus einer kritischen Betrachtung des herangezogenen Quellenmaterials und den inhaltlichen Bemerkungen zum Aufbau der vorliegenden Untersuchung zusammensetzt.
Die Geburtsstunde des modernen Polizeiwesens geht in Graubünden mehr oder weniger mit der Entstehung des Kantons selbst einher: Mit der Publikation vom 30. Mai 1804 4richtete der junge Kanton Graubünden in Anlehnung an die Tagsatzungsverfügung vom 12. September 1803 5erstmals ein zentralisiertes Polizeikorps ein. Zwar hatten die Gemeinen Drei Bünde bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts einige Versuche unternommen, ein permanentes fremdenpolizeiliches Korps zu installieren, jedoch waren sämtliche Ansätze an den politischen Strukturen und am mangelnden Interesse der Gerichtsgemeinden gescheitert. Diese waren nicht bereit, die für eine polizei(ähn)liche Institution benötigte Geldsumme aufzubringen. 6Dementsprechend hatten die im Mai 1804 aus dem Bockenkrieg zurückkehrenden acht Milizsoldaten, welche das erste kantonale Korps bildeten, keinerlei Erfahrungen mit der polizeilichen Alltagspraxis. Die Bündner Protopolizisten präsentierten sich diesbezüglich jedoch keineswegs als Aussenseiter, war die Entstehung modern-staatlicher Polizeikorps doch eine relativ neue Entwicklung, insbesondere im jungen eidgenössischen Staatenbund der Mediationsphase. Welche Amtsverrichtungen diesem neuen Beruf des Polizisten denn eigentlich zufallen sollten und wie das Tätigkeitsprofil eines solchen kantonalen Sicherheitsbeamten genau aussehen sollte, darüber waren nur vage Vorstellungen vorhanden. Die im Lauf der Jahre einsetzende Professionalisierung, welche sich im jungen Kanton Graubünden nicht zuletzt durch den 1818 antretenden Landjägerkorpsleiter Heinrich de Mont bemerkbar machte, sollte schliesslich ein immer konkreteres und eindeutigeres Bild von Auswahl- und Ausschlusskriterien bei der Selektion der erwünschten Mitglieder ermöglichen. Insofern ist bei der Ausmarchung des Landjägerprofils nie von einem einheitlichen, sondern vielmehr von einem sich stets wandelnden Berufsbild auszugehen. Die Systemtheorie würde – um bereits einen theoretischen Ansatz der im folgenden Kapitel diskutierten möglichen Herangehensweisen an das Quellenmaterial anzusprechen – aus organisationssystematischer Betrachtungsweise von einem sich autopoietisch erhaltenden und gleichsam evolutiv fortentwickelnden System sprechen. Als Resultat unzähliger Kommunikationen und Entscheidungen jedenfalls sollte dieses Landjägerprofil im Verlauf der hier untersuchten dreissigjährigen Zeitspanne – sie umfasst die volle Amtszeit des ersten Polizeichefs Heinrich de Mont, das heisst die Jahre von 1818 bis 1848 – zahlreiche Veränderungen erfahren. Ob und in welchem Ausmass dieser permanente Prozess entweder durch Rückmeldungen und Signale von aussen oder aber eher durch einen Erkenntnisgewinn von innen vonstattenging, gilt es in den folgenden Kapiteln aufzuzeigen.
Eine Gegenthese zum positivistisch konnotierten Begriff der Entwicklung und Professionalisierung ist die Behauptung, dass sich das Landjägerprofil von 1848 hinsichtlich der definierenden Faktoren wie Fähigkeit, Disziplin, Effizienz oder Handlungsmaximen von demjenigen des ersten Jahrzehnts nach Einrichtung des kantonalen Polizeikorps weder qualitativ noch habituell unterschied. Ein solcher Eindruck etwa könnte bei der Lektüre kritischer Stellungnahmen zum Landjägerkorps um die Jahrhundertmitte gewonnen werden. So urteilte beispielsweise Peter Conradin von Planta (1815–1902) im Jahr 1843 in seinem Aufruf zur Gründung des Reformvereins in strengen Worten:
«Wir sind an einem Punkte angelangt, wo wir uns sagen müssen: Es geht so nicht mehr. Der krankhafte Zustand, an dem wir leiden, liegt am Tage. Wer daran zweifelt, der werfe einen Blick in die unteren Regionen des Verwaltungs-, Polizei- und Justizwesens. Man könnte ein Buch schreiben über die Folgen dieses politischen Krebsübels, das kein öffentliches Leben, keine Teilnahme an den höheren Angelegenheiten, keinen industriellen, keinen ökonomischen Aufschwung, keinen lebenden Puls sittlicher und geistiger Kräfte und in unseren sozialen Verhältnissen kein behagliches Wohlbefinden aufkommen lässt.» 7
Diese und ähnlich lautende Expertisen lassen sich hervorragend in die liberale Verharrungsthese einordnen, gemäss welcher sich der in Hochgerichte und Gerichtsgemeinden zersplitterte Kanton Graubünden substanziell kaum vom vorhelvetischen Staatsgebilde des Ancien Régime unterschied. Gerade im Justiz- und Polizeiwesen erblickten diese dezidierten Kritiker und gleichzeitigen Wegbereiter der Kantonsverfassung von 1854, welche ihrerseits die Auflösung des gerichtsgemeindlichen Staatssystems zur Folge hatte, die grössten Defizite. Erst deren Reorganisation mit der Aufhebung der 48 Gerichtsgemeinden und die gleichzeitige Einteilung des Kantonsgebiets in Kreise und Gemeinden ermöglichten den Weg in die Moderne und in eine effizientere Verwaltung zugunsten einer grösseren Prosperität dieses als rückständig erachteten Landesteils. 8
Die Fokussierung auf den Alltag unter Berücksichtigung eines gewissen geschichtlichen oder eben auch evolutiven Prozesses beinhaltet einige Punkte, die noch zu diskutieren sind. Dabei gilt es festzuhalten, dass mit Alltagsgeschichte keineswegs eine Momentaufnahme gemeint ist. Vielmehr wird der Fokus auf sozialgeschichtliche Alltagsprozesse, -handlungen und -denkweisen gerichtet, welche traditionell-ereignisgeschichtliche Forschungsansätze oftmals vernachlässigten. Bevor indes die Alltagspraktiken genauer untersucht werden, bietet es sich an, nach geeigneten theoretischen Herangehensweisen zu fragen und die Möglichkeiten und Grenzen in Bezug auf den gewählten thematischen Untersuchungsgegenstand zu erörtern.
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