Ein weiterer Teil der im Amtsbericht erwähnten Verbrecherzahlen stützte sich auf die am Kriminaltribunal behandelten Fälle. Innerhalb dieses kantonalen Gerichts, das 1808 errichtet worden war, bildete der Verhörrichter mit dem Gerichtspräsidenten und dem Schreiber die eigentliche Untersuchungsbehörde. Anfänglich zur Verurteilung fremder Verbrecher gedacht, wurde das Gericht zusehends auch von den Gerichtsgemeinden verwendet. Dies geschah insbesondere dann, wenn ein Einheimischer ausserhalb seines Gerichts delinquent geworden war und die für ihn zuständige eigene Gerichtsgemeinde sich durch die Übersendung nach Chur eigene Gerichtskosten und Organisationsumstände ersparen konnte. Mit der Revision des Kriminaltribunals im Jahr 1823 erhielt diese Praxis ihre gesetzliche Grundlage. 477Der Transport der einheimischen Verbrecher nach Chur erfolgte teilweise durch die dafür beauftragten Landjäger, teilweise aber auch durch die jeweiligen Gerichtsweibel. Eine extreme Variante dieses ganzen bürokratischen Datenerhebungsprozesses ist in einem der Amtsberichte des Verhörrichters in Form minuziös dargestellter Tabellen erhalten geblieben. 478Als Verbrechen wurden Fälle erfasst, welche zuweilen auch ganze Gruppen umfassen konnten. Dabei beinhaltete diese Kategorie sämtliche Arten von Delikten, beginnend beim kleinen Diebstahl und endend bei Mord und Totschlag.
Unter dieser zunehmenden Kontrolle wurden Aussagen, gemäss denen viele Landjäger Vaganten ohne Eintrag durch den Kanton und über die Grenze zurückgewiesen hätten, 479immer seltener. Mit dem einsetzenden Erfolg zwangsstaatlicher Säuberung rückten auch einheimische Bettler ins Blickfeld. Sie tauchen in den Amtsberichten im Lauf der Jahre unter der spezifisch-bürgerstaatlichen Kategorie der Bündner Bettler auf. Diese sollten je länger je mehr in die für sie zuständige Heimatgemeinde zurücktransportiert werden. Trotz allen überwachungsstaatlichen Erfolgen und Bemühungen aber konnten die Polizeigremien die angestrebte Komplettübersicht bis zur Jahrhundertmitte nicht erreichen. Daran gehindert wurde das staatliche System durch die autonomen Gerichte sowie durch die beschränkten finanziellen Mittel.
35 Übersicht über die beim Verhörrichteramt des Cantons Graubünden zur Kenntniß gekommenen Verbrechen und Vergehen, deren Thäter und endlicher Ausgang im Lauf des Jahres 1835, Chur 24. 6. 1836. Erste Seite.
36 Personalstatistik im Bündner Polizeisystem 1818–1848. Entwicklung des Landjägerkorpsbestands (rechte Achsenwerte) und der Anzahl durch die Landjäger transportierter Personen (linke Achsenwerte) seit Antritt des Verhörrichters (1818) sowie der Anzahl bekannt gewordener Verbrechen (linke Achsenwerte), die unter anderem durch die Landjäger gemeldet wurden.
Bis zu einem bestimmten Grad kann bei den Leistungsquoten ein gewisser Rückkoppelungseffekt festgestellt werden: Je mehr Fälle rapportiert wurden, desto einfacher konnte von den obersten Polizeibehörden der höhere Bedarf an Landjägern begründet und durchgesetzt werden. Ein vergrössertes Korps konnte dann wiederum mehr Personen festsetzen und erfassen. Besonders deutlich wird dieser Effekt bei der im Hinblick auf das neue Armengesetz erfolgten Anstellung der sechs provisorischen Landjäger. 480Dieses liess, wie dem Diagramm zu entnehmen ist, die Zahl der gemeldeten Bettlertransporte markant in die Höhe schnellen. Ob nun die von verschiedenen Landjägern berichtete ungenügende Befolgung des Armengesetzes für mehr Transporte gesorgt haben könnte, ist anzunehmen, jedoch kaum abschliessend nachzuweisen. Der in Scuol stationierte Landjäger Christian Grass d.Ä. jedenfalls schrieb 1841:
«[A]ls daß muß ich ihnen Mälden daß Arme Leüt zu mir gekomen sind, welche klagbar gegen ihrer Gemeinde sind, daß man ihnen keine unter Stüzung wolle zu komen laßen, sonderen Sie heiße Bätlen gehen. [/] ich hab es denen H. Comissärs angezeigt aber es wird wenig frucht bringen.» 481
Dem sich mit ähnlichen Worten äussernden Landjäger Balthasar Kocher antwortete der Verhörrichter:
«[W]er sich zum 3ten Mal betretten läßt, kommt nach dem Gesez auf Kosten seiner Gemeinde ins Kantonal Arbeitshaus nach Furstenau. Dieses wird auf die Gemeinden und auf die Bettler selbst am besten wirken, daß sie das Gesez gehörig befolgen.» 482
Obwohl die Anzahl einfliessender Informationen betreffend Wegschaffung fremder Bettler gegen die Jahrhundertmitte stark abgenommen hatte, blieb die Zahl der transportierten einheimischen Bettler auf konstant hohem Niveau oder stieg sogar nochmals an. Im Gegensatz zur gegenüber fremden Bettlern praktizierten Abschiebungspolitik liess sich die Lösung der einheimischen Vagantenfrage mit dieser simplen Taktik nicht bewerkstelligen. So schrieb der neue Polizeidirektor Janett im Juni 1849:
«Die Zahl der Bezirkslandjäger müsste auf das Dreifache erhöht werden, wollte man das Bettelwesen ganz unterdrücken und dann noch wäre es kaum möglich so lange das Hausiren mit Kleinigkeiten […] nicht ganz verboten ist. […] Das einzig wirksamste Mittel gegen diesen Krebsschaden ist, denselben in seinem Ursprung, in der Wurzel zu heilen. Die löblichen Gemeinden sollen für jeden hülflosen Armen soweit sorgen, dass ihm die Nothwendigkeit zum Bettel benommen ist […,] wodurch man überdies den unerlässlichen Vortheil wieder erlangen würde, dass die Landjäger ihrer eigentlichen Bestimmung für die Fremdenpolizei nicht mehr so sehr entzogen würden, als jetzt durch das beständige Betteljagen der Fall ist.» 483
Die Bettlerfrage sollte mit der Entstehung des Bundesstaats und dem darauf folgenden Heimatlosengesetz von 1850 eine neue Ebene erreichen. In der Folge wurden alle als angehörig geduldeten Bündner, welche bis anhin an ihrem Ort nicht die vollumfänglichen Bürgerrechte besessen hatten, formalrechtlich eingebürgert. 484
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