In der Wachstumsphase erreicht das Produkt steigende Marktakzeptanz: Es gelingt dem Unternehmen, die anfängliche Skepsis des Publikums gegenüber dem Produkt abzubauen. In diesem Stadium wird die Gewinnzone erreicht. Methoden der Massenproduktion und eine Standardisierung des Produkts sowie eine steigende Nachfrage im Ausland mit einer Auslagerung der Produktion in andere Länder sind dabei typische Merkmale. Gleichzeitig dringen nachahmende Konkurrenten in den florierenden Markt ein, welche die bisherige Monopolstellung des Pionierunternehmens gefährden. Der Preiswettbewerb setzt ein.
In der Reifephase können die absoluten Umsatzzahlen weiter gesteigert werden, die Wachstumsraten beginnen aber zu sinken. Der steigende Verdrängungswettbewerb lässt die Renditen auf der Anbieterseite sinken. Die Preise fallen, bis die Gewinnmargen dahingeschmolzen sind und das Marktpotenzial schliesslich gänzlich ausgeschöpft ist. Die zusätzliche Nachfrage verlagert sich in dieser Phase hauptsächlich in die Entwicklungsländer. 84
Wird der Produktlebenszyklus in diesem Stadium durch geeignete Marketing-Massnahmen wie eine Neulancierung des Produkts nicht verlängert, 85tritt eine Sättigung ein, welche zu schrumpfenden Umsatzzahlen führen kann. In der Degenerationsphase wird das bisherige Produkt schliesslich durch ein neues Produkt ersetzt, das den Kundenanforderungen besser entspricht. 86Laut der Produktlebenszyklustheorie durchlaufen Produkte damit einen «Prozess schöpferischer Zerstörung», indem alte Produkte und Technologien durch neue abgelöst werden. 87
Neue Technologien und Konsumbedürfnisse beeinflussen also den Produktlebenszyklus eines Markenprodukts, und dieser wiederum hat Auswirkungen auf den Umsatz und den Gewinn – und damit das Wachstum – eines Unternehmens. Da die Gewinnmarge im Verlauf des Produktzyklus sinkt, müssen Unternehmen ihre Markenprodukte stetig den Konsumbedürfnissen anpassen oder sich neuen, Profit versprechenden Geschäftsfeldern zuwenden, um den Unternehmensgewinn aufrechterhalten zu können. Damit spiegeln Markenprodukte nicht nur Konsumbedürfnisse wieder, sondern beeinflussen auch die Entwicklung von multinationalen Konzernen.
Forschungsstand zu Nestlé und seinen Pulvergetränken
Über Nestlé und seine Markenprodukte sind zahlreiche Publikationen erschienen, die sich grob in drei Gruppen unterteilen lassen:
Eine erste Kategorie bilden die firmeneigenen Darstellungen des Unternehmens wie «This is your Company», 88die beiden Jubiläumspublikationen von Jean Heer 89sowie deren Fortsetzung «Wandel als Herausforderung» von Albert Pfiffner und Hansjörg Renk, 90die als Überblickswerke eine nützliche Orientierungsgrundlage sind.
Zweitens häuften sich ab den 1970er-Jahren kritische Schriften über Nestlé sowie Gegendarstellungen des Westschweizer Unternehmens im Zusammenhang mit der Publikation «Nestlé tötet Babys» 91und der Diskussion um die Verantwortung multinationaler Konzerne. Zu den prominentesten unter ihnen zählen «L’Empire Nestlé» von Pierre Harrisson 92sowie die kürzlich von Attac Schweiz veröffentlichte Darstellung «Nestlé: Anatomie eines Weltkonzerns», 93welche politisch gefärbt sind und eine einseitige Haltung gegen Nestlé einnehmen. Umgekehrt nehmen Publikationen wie «Nestlé. Macht durch Nahrung» 94und «Gemeinsam Werte schaffen» 95von Friedhelm Schwarz oder die firmeneigenen Darstellungen zu Nestlé in den Entwicklungsländern 96einen sehr entgegenkommenden Standpunkt gegenüber dem Unternehmen ein.
Als dritte Gruppe sind schliesslich zahlreiche historische Lizenziats- und Doktorarbeiten über Nestlé zu nennen, deren Interesse geschichtswissenschaftlich motiviert war: Zu ihnen zählen die Geschichte des Unternehmers Henri Nestlé von Albert Pfiffner, 97die Lizenziatsarbeiten über die Anglo-Swiss Condensed Milk Company von Manuel Fischer und Alain Bolomey sowie die darauf aufbauende Publikation «George Page. Der Milchpionier», 98aber auch die Darstellungen über die Nestlé & Anglo-Swiss im Ersten Weltkrieg und die nachfolgende «Krisenreaktionsstrategie» des Unternehmens. 99Jüngst erschienen zudem Publikationen zur Geschichte von Nestlé am Bosporus, 100über den Milchpulverskandal «Nestlé tötet Babys» als Medienereignis 101sowie eine Begleitpublikation des Museums Alimentarium zu einer Ausstellung über die Anfänge der Schweizer Lebensmittelindustrie, die sich stark an Nestlé orientiert. 102Bei dieser Übersicht fällt auf, dass vor allem die Anfänge des Unternehmens bis zum Ersten Weltkrieg erforscht sind, während eine Aufarbeitung der Unternehmensentwicklung in der Zeitspanne zwischen 1921 und 1971, in der die Marken Nescafé, Nestea und Nesquik begründet wurden und Nestlé zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt aufstieg, mit Ausnahme von Heers Jubiläumsschrift und Martin Lüpolds Studie zu den Krisenjahren noch weitgehend fehlt.
Ähnliches gilt für die Geschichte des Pulverkaffees, die in verschiedenen Publikationen zwar gestreift, aber nie wirklich aufgearbeitet wurde. 103Zu Nescafé sind vorwiegend die Anfänge erforscht: Neben den Jubiläumsschriften von Jean Heer haben sich Malia Ukishima in ihrer Lizenziatsarbeit «Le succès et la recette du Nescafé» 104sowie Albert Pfiffner in seinem Artikel «A real winner one day» 105vertieft mit den Anfangsjahren der Marke zwischen 1930 und 1945 auseinandergesetzt und die Geschichte der Entdeckung und Lancierung des Nescafés damit auf eine solide Basis gestellt. Über die weitere Entwicklung der Marke ist dagegen wenig bekannt: Abgesehen von kurzen Erwähnungen im Bericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK) 106über Geschäfte und Zwangsarbeit existieren einzig populärwissenschaftliche Darstellungen in Marken-Büchern. 107
Noch marginaler untersucht ist die Geschichte des Tee- und Kakaopulvers. Während Instanttee nicht einmal in Ukers’ «All about tea» 108grössere Erwähnung findet und die Marke Nestea erst jüngst in der Dissertation «Ready to Eat» von Eva Von Wyl 109wissenschaftlich erforscht wurde, war die Geschichte des Kakaos bis anhin vor allem von der essbaren Schokolade geprägt. Über Kakaopulver dagegen ist – abgesehen von der Erfindung des «Dutching-Verfahrens» – wenig bekannt. 110Eine erfreuliche Ausnahme bildet diesbezüglich das kakaohaltige Malzgetränk Ovomaltine der Schweizer Firma Wander, dessen Geschichte relativ gut erforscht ist. 111
Quellenlage und Quellenkritik
Die Quellenlage zur Geschichte von Nestlé und Nescafé ist allgemein gut, wobei es starke Unterschiede zwischen den einzelnen Zeitperioden gibt. Die grösste Sammlung an Quellen befindet sich in den Archives Historiques Nestlé (AHN) in Vevey. Daneben verfügen gewisse Tochtergesellschaften und Nestlés strategische Geschäftseinheiten (SBU) über kleinere Archive.
Die vorliegende Arbeit stützt sich vorwiegend auf Quellen aus den Archiven in Vevey. Der Blickwinkel beschränkt sich dadurch auf Vorgänge, die für den Hauptsitz relevant waren. Der Fundus gibt aber trotzdem eine ausgezeichnete Globalübersicht. Neben den öffentlichen Jahresberichten wurden in dieser Arbeit vier verschiedene Quellensammlungen ausgewertet, welche die Geschichte von Nestlé und Nescafé aus der Innensicht des Unternehmens beleuchten:
Die erste Quellensammlung bilden die Berichte an den Verwaltungsrat (Rapports au Conseil d’Administration). Sie sind im Untersuchungszeitraum zwischen 1921 und 1980 – mit einigen Ausnahmen in der Zwischenkriegszeit – durchgängig vorhanden. Sie geben wichtige Anhaltspunkte über die allgemeine Geschäftslage des Unternehmens, gehen aber oft nicht über einen groben Überblick hinaus. Für die Zeit zwischen 1921 und 1945 stellen die Verwaltungsratsberichte die wichtigste interne Informationsquelle dar. Der Grund dafür liegt darin, dass bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Teile des Nestlé-Archivs einerseits in die Vereinigten Staaten transferiert wurden und von diesen nur ein Bruchteil wieder zurück kam, andererseits ein Teil als Vorsichtsmassnahme vor einer Invasion der Deutschen vernichtet wurde. Bereits 1950 stellte ein Nestlé-Mitarbeiter fest, dass die Nestlé-Akten aus den 1930er-Jahren unvollständig seien. 112
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