„Die Förster wollen und brauchen beim Rehwild jetzt nicht mehr anzusprechen“, sagen die einen. In der „Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Niedersächsischen Jagdgesetzes“ liest sich das natürlich eleganter. Es soll eine Intensivierung der Bejagung insbesondere für die dickungsreichen Waldkomplexe geschaffen werden.
Das Rehwild wird auch in seinem angestammten Lebensraum nur noch als Schadfaktor gesehen. Jeder mitdenkende Jäger sieht ein, dass in einer forstlichen Aufbauphase der Rehwildbestand durch Schwerpunktbejagung kurzgehalten werden muss, und das war bisher bei den Rehböcken in fünfeinhalb Monaten auch möglich.
Vorbei die Zeiten, als ein Förster neben dem Holz auch noch ein Auge auf seinen gerecht zu bejagenden Wildbestand hielt? Jetzt weiche ich ein bisschen von meiner bisherigen Pirschrichtung ab, denn ich sage: Ich glaube es nicht, man soll nicht alle über einen Kamm scheren, und die Verordnung, die so heftige Diskussionen ausgelöst hat, kommt von „ziemlich weit oben“. Huberto sei Dank, dass ich eine ganze Reihe von Förstern kenne, denen „Wald und Wild“ noch am Herzen liegt – im Übrigen ist das ein ganz klarer gesetzlicher Auftrag nach dem Bundesjagdgesetz!
Wie dem auch sei, ich ging Mitte November nicht ins Revier, um noch einen Bock zu schießen, sondern um verschiedene Bereiche auf Sauen abzufährten und um mich auf weibliches Rehwild anzusetzen.
Von der beuteträchtigen, aber höchst altersschwachen Kanzel „Krematorium“ hatte ich im letzten diffusen Licht drei Stück Rehwild austreten sehen und diese als Ricke mit zwei Kitzen angesprochen. Dabei schien es mir, als wenn eines der Letzteren irgendwie unnormal dem führenden Stück nachzog.
Zwei Tage später saß ich an gleicher Stelle und beschäftigte mich in Gedanken mit den frischen Saufährten und dem zu beschickenden Luderplatz, denn an dieser Örtlichkeit hatte ich auch das Gros meiner Winterfüchse mit wunderbarem Balg geschossen.
Diesmal war das Licht noch gut, als an anderer Stelle drei Stück Rehwild aus dem Bestand auf das magere Grün hinauswechselten. Aha, dachte ich, die bewussten drei! Doch was war das? Das zuletzt folgende Stück schonte nicht nur, es „hüpfte“ auf drei Läufen!
Das war auch kein Kitz, ich hatte mich in der Dunkelheit geirrt, bei den noch guten Ansprechbedingungen erkannte ich jetzt einen schwachen Jährlingsbock. Es war noch weit, sehr weit, aber im Glas sah ich deutlich, dass ein Lauf baumelte, wenn der Bock, der ansonsten wie die beiden anderen Stücke vertraut äste, einige Längen „weiterhoppelte“. Jetzt war ich natürlich elektrisiert, dieses schwache und kranke Stück musste unverzüglich erlegt werden.
Als das matte Licht des Novembertages bedrohlich im Abnehmen begriffen war und ich die Hoffnung verlor, dass sie näher heranwechseln würden, ging ich in Anschlag, was ich bei einem gesunden Stück auf diese Entfernung wahrscheinlich nicht gemacht hätte.
Mir kam mein diesjähriger Jagdausflug in die Karawanken in den Sinn. Im August hatte ich eine Gams auf 180 Meter erlegt, das machte mir frischen Mut, außerdem hatte ich hier eine gute Auflage und stabilisierte zusätzlich den rechten Ellenbogen auf dem hochgezogenen und abgestützten Knie.
Zwei, drei Minuten musste ich noch warten, bis der Kranke sich breit präsentierte.
Der Schuss brach, der Bock fiel, Ricke und Kitz spritzten auseinander, verhofften und äugten ratlos zu dem liegenden, aus ihrer Mitte gerissenen Stück hinüber. Die Dublette versagte ich mir, blieb noch mit dem Absehen auf dem kleinen hellen Fleck auf dem braungrünen Untergrund des Saatschlages. Zögernd verschwand zuerst das Kitz und dann, immer wieder zurückäugend, die Ricke in der Saumzone des Bestandes.
Zehn Minuten später brach ich im letzten Licht den schwachen Jährling mit dem niedrigen, dünnen Gablergehörn auf – was gibt es Besseres für den Luderplatz als einen Rehwild-Aufbruch, den natürlich auch die Sauen höchst gerne annehmen.
Der Jährling hatte keine frische Verletzung. Der rechte Vorderlauf hing über dem Fußwurzelsprunggelenk nur noch an der Decke, die Schalen waren ausgewachsen.
Warum es mir einfiel, weiß ich nicht: Meine im Sekundenbruchteil tötende Kugel war sicher humaner als der reißende Fang des Deutschland mit ungeahnter Vitalität erobernden Wolfes. Eigentlich hat der Abschuss dieses Bockes gar nichts mit der verlängerten Jagdzeit zu tun, denn eindeutig krankem Wild gebührt die Kugel auch in der Schonzeit.
Trotzdem war die Gedankenverbindung da, irgendwie ist doch die Jagdzeit auf den Bock im Innern des Jägers verfestigt, zum Beispiel hatte ich – im krassen Gegensatz zu Mai, Juni, Juli und August – auch gar keine Lust, das Gehörn abzukochen und zu präparieren, tat es natürlich aber doch. Sonst um diese Zeit waren es meistens Damhirsch-Schädel, an denen ich herumschabte, und Schaufelgeweihe, die ich immer wieder begutachtete; auch um eine Ente zu rupfen und den Hasen für die Bratröhre fertig zu machen, war ich mir nicht zu schade.
Aber im November, Dezember oder Januar mit Absicht einen gesunden, abgeworfenen, schiebenden, Ruhe benötigenden Bock schießen? Ein klares Nein.
Ob schwarz oder rot – die Jagdzeit auf Rehböcke bis zum 15. Oktober ist lang genug!
Ein besonderer Elbmarschbock
Der große Strom fasziniert immer; bringt die Elbe nicht ein Stück historische und gleichzeitig höchst lebendige Geschichte mit sich, leiten ihre flutenden Wellen unsere Gedanken und Sehnsüchte nicht in die Ferne, spüren wir nicht gleichzeitig die Erdverbundenheit an ihren Ufern? Zudem ist das Eintauchen in die Naturlebensräume an ihren Gestaden immer ein besonderes Geschenk für den Naturfreund.
Ein solcher war und ist Simon, gleichzeitig Hobby-Ornithologe, vom Jugendjagdschein an passionierter und trotzdem eher zurückhaltender Jäger, der weniger die Treibjagd als die einsame Pirsch liebt und deswegen unter den ihn sonst durchaus schätzenden Weidgenossen ein wenig als elegischer Sonderling gilt. Simon stört das nicht, so viele unendlich kostbare Stunden hat ihm die Elbregion und das Revier seines Onkels schon geschenkt. Dieser hatte wenig Zeit, hielt die Pacht auch mehr aus Geltungssucht denn aus Passion und sah es nicht ungern, wenn sein Neffe einen Großteil des Rehwild-Abschusses „erledigte“, allein aus diesem ihm geläufigen und immer wieder gebrauchten Ausdruck war sein Verhältnis zum Wild schon abzulesen.
Wieder einmal wanderte Simon auf dem Elbdeich zwischen Tespe und Marschacht stromabwärts. Ein dunkler Punkt in der Luft, ein größerer Vogel strich heran. Im hochgenommenen Fernglas wurde er schnell größer und größer. Welch eine Flügelspannweite! Der gelbe, mächtige Schnabel fiel schon von weitem auf, dann der keilförmige helle Stoß. Ein ausgewachsener Seeadler, wann sieht man ihn schon mal so nah und kann ihn in allen Einzelheiten beobachten! Fasziniert folgte er dem majestätischen Aar mit den Blicken und freute sich über die positive Entwicklung seines Vorkommens.
Simon hielt die Augen weiter auf, in der Elbmarsch ist nicht jede Ente eine Stockente, nicht jeder Greif ein Mäusebussard, nicht jeder Piepmatz eine Amsel oder eine Kohlmeise, wobei er gegen diese häufigen Arten absolut nichts hatte und sich an ihrem Dasein erfreute.
Er wanderte ein Stückchen in die Feldmark hinein, wo es immer etwas zu beobachten gab. Besonders gute Einblicke bekam er in das Leben und Treiben des Neuntöters, der in dem Stückchen Weißdornhecke, das einen großen Rapsschlag begrenzte, den Mittelpunkt seines Territoriums hatte. Sowohl das schön gezeichnete Männchen mit dem kastanienbraunen Rücken, blaugrauen Scheitel und Bürzel und dem schwarzen Gesichtsstreifen als auch das oberseits matt rotbraune, unten gelbbräunlich gefärbte Weibchen mit der gebänderten Brust bekam er dort regelmäßig in Anblick. Allzu lange konnten sie aus ihrem afrikanischen oder südasiatischen Winterquartier noch nicht zurück sein, vielleicht erst vier Wochen. Jetzt war es Ende Mai, und die beiden waren erkennbar beim Nestbau, immer wieder sah er sie mit einem Halm, einem kleinen Zweig, einer Wurzel oder einem Stückchen Moos im größten Dornenbusch verschwinden.
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