Die Kühle des frischen Junimorgens vor Sonnenaufgang ließ mich bald etwas frösteln. Den Kuckuck schien das zu amüsieren, ganz nahe ließ er seine heisere Lache ertönen, bevor ich den Sperbergefiederten über die Wipfel streichen sah.
Da brach es in dem kürzlich durchforsteten Stangenholz rechts vor uns, wenig später flitzte ein vorwitziger Frischling über die Schneise. Während ich noch dachte: „Nanu, der ist doch wohl nicht alleine?“, schob sich schon die Bache aus dem dichten Himbeergestrüpp heraus, gefolgt von fünf weiteren Fröschen, die wussten, was sich gehört und schön der Mama auf dem Pürzel folgten. Bianka tauschte einen tiefen Blick mit mir und sackte enttäuscht etwas zusammen, als ich abwinkte.
Da! Ein zorniges Schrecken aus dem Stangenholz. War es der Bock? Rehwild pflegt auf diese Weise häufig seinen Unmut über die quirligen Sauen auszudrücken.
Vierläufer und Zweibeiner richteten sich auf, Spannung lag plötzlich in der Luft.
Die Schneise war nur schmal, vorsichtig und langsam nahm ich schon mal die Büchse hoch und ging in Anschlag. Eine Chance würde ich trotzdem nur haben, wenn der Bock zumindest kurz verhoffen würde. Auf ein flüchtiges Stück würde man an dieser Stelle nicht fertig werden. Da war er schon! Es gibt viele Situationen auf der Jagd, in denen man unbedenklich durchs Zielfernrohr ansprechen kann. Aber … das Stück hatte nicht auf, eine Ricke!
Völlig breit stehend äugte sie zur anderen Seite hin, dann zu mir rüber, neigte den jetzt erkannten schlanken Schmalreh-Hals, zupfte ein Kräutlein und verschwand im dichten Ginsterbestand. Jeder Weidgenosse wird mir beipflichten: Jetzt musste er kommen!
Ganz leises Klicken des Stechers, im Zielfernrohr erwartete ich jeden Moment die rote Decke, das klar zu erkennende Schaufelgehörn – und fieberte vor dem Schuss!
Eine Minute, zwei Minuten … Er kam nicht! Ich setzte die Büchse ab, war aber jederzeit bereit, sie blitzschnell wieder hochzunehmen. Meine Bereitschaft wurde nicht belohnt, und nach einer Viertelstunde war ich mir ziemlich sicher, dass meine Büchse heute nicht mehr sprechen würde. Das Schrecken konnte aber nicht von einem Geist stammen, und ich sann über die hundert Gründe nach, warum das begehrte Wild sich heute nicht gezeigt hatte.
Trotzdem marschierte ich entspannt durch die herrliche Natur mit dem freudig mich begleitenden Hund an der Seite in Richtung Unterkunft zurück mit dem festen Vorsatz: Sowohl heute Abend als auch morgen in der allerersten Frühe wieder Ansitz an der Schneise!
Es ist immer ein Genuss, das langsame Vergehen eines Junitages im Revier – und nicht in engen vier Wänden – zu erleben und mit allen Fasern des Menschseins den unendlich vielen Facetten des Lebens „in Farn und Fichten“ zu folgen. In Bökshagen gab es selten eine Störung durch Zweibeiner. Noch eine Seltenheit gab es an dem Abend: Keinerlei Wildanblick! Auch keine Lautäußerung, kein Schrecken im Bestand, kein Brechen von Hochwild, auch die Hundenase zeigte nichts an.
So ging ich am nächsten Morgen mit gemischten Gefühlen hinaus, obwohl das Wetter und vor allem der Wind mir wohlgesonnen waren und ich meinen alten Ansitzplatz deswegen wieder beziehen konnte. Und – diesmal hatte ich den gleichen Anblick wie am Tag zuvor: Es wird die gleiche mittelalte Bache gewesen sein, die ihre sechs Frischlinge – diesmal alle hinter ihr – über die Schneise in den Tageseinstand führte. Beschwören kann ich es natürlich nicht, dass es auch das gleiche Schmalreh war: Nicht nur ein Häppchen nahm es auf der Schneise auf, sondern äste zwei oder drei Minuten lang auf dieser, völlig vertraut und kaum einmal den feinnervigen Kopf zum Sichern erhebend.
Bevor es einzog, wechselte es auf kaum 50 Meter an meine Position heran, was mich veranlasste, den Gesichtsschleier von der diesmal getragenen Schirmmütze herunterzulassen. Bei der Blattjagd ging ich kaum einmal ohne diese Gesichtstarnung hinaus.
War der „Schaufelige“ hier nicht mehr um die Wege? Schon mindestens eine halbe Stunde lag die Schneise ohne Leben vor mir. Aufmerksam wurde ich, als meine Hündin abrupt ihren Kopf erhob, die Behänge aufstellte und in das mit dichtem Unterwuchs bestandene Stangenholz hineinäugte. Ich hatte nichts gehört oder gesehen.
Doch im selben Augenblick blendete mich eine Bewegung auf der „falschen Seite“, wo das Schmalreh verschwunden war. Ein Stück rote Decke in der Randvegetation – kam das Stück zurück, um noch Nachlese zu halten?
Nein, wieder brauchte ich kein Glas: Spitz zu mir hin verhoffte auf 70–80 Meter ein starker Rehbock, viel Masse zeigte sich zwischen den Lauschern, er äugte mich direkt an, durch mich hindurch, erkannte mich nicht.
Regungslos verharrten Jäger, Hund und Wild. Als der Bock eine halbe Wendung machte, stand er breit und gab mir die zwei Sekunden Zeit, schnell die Waffe hochzunehmen, wobei ich durch das Zielfernrohr die „erschreckend“ schaufelige linke Stange klar erkannte.
Er war es! Der Zeigefinger verstärkte den leichten Druck auf den gestochenen Abzug und der Schuss peitschte hinaus. Im Repetiervorgang sah ich den Bock fallen, sekundenlang die Läufe schlagen über den noch vom Morgentau glänzenden Stauden, dann zog wieder Ruhe und Bewegungslosigkeit ein, überraschendes und spannendes Erleben verhallte langsam, und nur das heftig pochende Jägerherz fand noch nicht so schnell zu seinem alten Rhythmus zurück.
Doch der Bock musste liegen, keine Abflucht mehr, selbst die schmale Schneise hatte er nicht mehr verlassen.
Natürlich zog die Hündin am Riemen, als wir zum Anschuss hin schritten. Der blonde Bauch des Verendeten leuchtete uns bald entgegen. Bökshagen wartete mit einem besonderen Geschenk für mich auf. Etliche Abnorme, auch ein echter Einstangenbock, hingen an meiner Wand, aber dieser hier war ein ganz Besonderer! Auf starken Rosenstöcken rechts ein in den Spitzen leicht angegabelter Buchstabe „V“, links die massig breite Sechserstange, die dem Bock den Namen gegeben hatte.
An diesem Wild der Heimat kostete ich lange den Jubel des reifen, aber noch nicht alten Jägers, die archaische Beutelust und die Freude des Schützen über die treffsicher versandte und blitzartig tötende Kugel aus.
Immer noch kühlschattig wölbten sich über uns die Kronen des Buchenaltholzes, schauten auf ihre Nachkommen im Stangenholzalter herab und übernahmen unbedenklich die Wacht für den in ihrer Obhut zum Ausschweißen aufgehängten Rehbock.
Der Heimweg war freudig; allzu viele Stunden der vollkommenen Abkehr von Sorgen, Leid und Last bietet das Leben nicht, und man soll sie genießen und auskosten.
Der Schaufelige oben in der Mitte zwischen anderen Abnormen .
Länger gemunkelt hatte man schon darüber, auch die eine oder andere eher kurze Notiz in der jagdlichen Presse gelesen. Dann ging es aber plötzlich im Hauruck-Verfahren weiter, und nur wenige Tage vor ihrem Inkrafttreten (eher ungewöhnlich) am 1. Oktober 2014 hat das Landwirtschaftsministerium in Niedersachsen mit einem „grünen Minister“ an der Spitze geänderte Jagd- und Schonzeiten herausgegeben. Bei Rehböcken, und nur auf diese will ich eingehen, wurde die Jagdzeit bis zum 31. Januar verlängert.
Empörend! Welcher Jagdpächter hatte denn bisher am 15. Oktober seinen Bockabschuss nicht erfüllt?! Welcher echte Jäger empfindet Freude daran, einen abgeworfenen oder im Bastaufbau befindlichen Bock zu schießen? Welcher echte Jäger gönnt nicht dem Bock, verfolgt seit dem 1. Mai, neuerdings seit dem 16. April und in manchen Bundesländern schon seit dem 1. April, die Schonung und Ruhezeit?
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