Spielen, Fantasie und Humor sind natürliche Ressourcen des Kindes. Bei traumatisierten Kindern sind sie oftmals verschüttet. Spielen, das Freude macht und lustvoll ist, absichtsloses Spielen, dieses Wiedergewinnen der Natürlichkeit im Spiel ist Aufgabe der Kindertherapie und auch der Arbeit mit den Angehörigen im Umweltfeld. Wieder Spielen zu lernen ist ein Therapieziel. KinderpsychotherapeutInnen sind darin auch ein Modell für Eltern, die oft mals selbst verlernt haben zu spielen. Sie werden von uns ermutigt, dass sie wieder mit ihren Kindern spielen. Das Kind wird angeregt, aktiv die Therapiestunde mit zu gestalten, Einfluss zu nehmen, auszuwählen, Kraft und Ausdauer im Ausprobieren zu entwickeln. Kinder werden auch aufgefordert im Sinne Oaklanders, aggressive Impulse zu zeigen. Im Laufe der kindlichen Entwicklung kommt es häufig zu negativer Sanktionierung von aggressiven Handlungen und infolge zu Beschämung. Die Annahme der Aggression als einer treibenden Kraft, um Ziele zu erreichen, macht sie aber erst nutzbar für heilsame Prozesse. So weit zu einigen Ausführungen von Oaklander und Mortola über den therapeutischen Prozess in der Gestaltkindertherapie. Abschließend sei angemerkt, dass Mortola Oaklanders Interventionen in einem 4-Stufen-Modell der therapeutischen Erfahrungen zusammenfasst, die weitere Ausführung dieses Modells würde an dieser Stelle zu weit führen (vgl. Mortola 2011, 78 ff.; 108).
In der psychotherapeutischen Praxis haben wir es mit Kindern und deren Angehörigen zu tun, die mit komplexen Problemkonstellationen zu uns kommen und unsere Antworten müssen dieser Komplexität Rechnung tragen. Kinder mit Migrationshintergrund, traumatisierte Kinder, Kinder, die ohne Vater aufwachsen, Kinder inmitten von Wohlstandsverwahrlosung, Kinder psychisch kranker Eltern, Kinder mit Behinderung oder chronischer Erkrankung oder Kinder mit suchtkranken Eltern, wie es in der nachfolgenden Fallgeschichte von Anatol zur Sprache kommen wird. All diese Kinder brauchen unterschiedliche Unterstützung von uns und doch ist allen gleich: Sie sind Kinder und versuchen innerhalb eines geschützten Therapieraums, innerhalb einer tragfähigen dialogischen Beziehung mit uns Antworten zu finden auf ihr Dasein in der Welt.
Fallgeschichte: Die Geschichte von Anatol, dem Jungen, der nicht wusste, warum er immer so viel weinen muss 3
Anatols Mutter rief mich in meiner psychotherapeutischen Praxis an und bat um ein Erstgespräch, eine Psychologin habe ihr nach einer klinischen Testung dringend geraten, für sich und ihren Sohn Anatol psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie wolle alleine zu diesem Gespräch kommen.
Anatol war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt, er lebte als Einzelkind mit seiner Mutter, einer moldawischen Altenpflegerin und mit seinem Vater, einem selbstständigen Handwerker. Zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme hatte der Vater wieder zu trinken begonnen, nachdem er über ein Jahr abstinent gewesen war.
Als mir Anatols Mutter das erste Mal gegenübersaß, sagte sie: »Anatol ist komisch, aber die Situation zuhause ist komisch.« Was meine sie damit, fragte ich nach. »Mein Mann trinkt, wir streiten uns sehr viel und Anatol hat Angst, sehr viel Angst. Er muss viel weinen, wissen Sie.« Sie selbst habe als Kind auch viel Angst gehabt, auch ihr Vater war Alkoholiker, für ihren Sohn Anatol wünsche sie sich etwas anderes, er solle nicht so viel Angst haben.
Wie äußere sich die Angst, fragte ich weiter. Anatol habe vor allem Angst davor, alleine zu bleiben, auch vor Geräuschen fürchte er sich und vor Spinnen. Er beginne in letzter Zeit immer öfter grundlos zu weinen, was sie nicht verstehen könne, weil er doch ansonsten so ein fröhlicher Bub sei.
Außerdem leide er immer wieder an heftigen Kopfschmerzen und Bauchschmerzen. In der Kinderklinik hätten sie keine organischen Ursachen finden können, vermutlich seien die Beschwerden psychosomatischen Ursprungs. Die Mutter hat ein testpsychologisches Gutachten mitgebracht, in dem die Angststörung und die psychosomatische Reaktionsbildung Anatols formuliert waren, ferner die Schulprobleme in jüngerer Zeit. Aus dem Gutachten ging weiter hervor, dass Anatol besonders dann Angst hatte, wenn seine Mutter im Nachtdienst als Altenpflegerin war und er mit seinem Vater alleine zu Hause sein musste. Sein Vater betrank sich in diesen Nächten und Anatol konnte vor Angst nicht schlafen, er fühlte sich bedroht, glaubte, etwas Schlimmes könnte passieren. Als Anatol vier Jahre alt war, starb der Bruder der Mutter bei einem Verkehrsunfall, dieser Onkel hatte für Anatol und dessen Mutter eine große Bedeutung. Im Alter von fünf Jahren erlitten Anatol und seine Eltern selbst einen schweren Autounfall. Am Tag zuvor hatte der Vater sehr viel getrunken. Das Auto wurde von einer Leitplanke durchbohrt, die knapp neben Anatols Sitzplatz in das Auto eingedrungen war. Anatol und seine Eltern hatten großes Glück, dass sie diesen Unfall mit leichten Verletzungen überstanden. Dieses Ereignis war laut Aussage der Mutter ein wichtiger Einschnitt für sie und ihre Familie. Sie begann selbst mit einer Psychotherapie, und der Wunsch, ihren Mann zu verlassen, reifte in ihr. Sie habe zum damaligen Zeitpunkt nur noch eine Art Geschäftsbeziehung zu ihm gehabt, meinte sie. Im Kindergarten war Anatol zu diesem Zeitpunkt noch nicht auffällig, er war ein kontaktfreudiges Kind, aber in der Vorschule und vor allem in der Volksschule gab es dann verstärkt Probleme. Er störte den Unterricht, redete viel dazwischen. Mit acht Jahren verstärkte sich dann Anatols Angst.
Die Mutter begann zu weinen, sie erinnerte sich an ihre eigenen Ängste als Kind in einer Alkoholikerfamilie, ihren Wunsch, zu flüchten, woanders ein Leben aufzubauen. Bis dorthin sei es ein weiter Weg gewesen, sagte sie und sie sei immer noch nicht ganz angekommen. In mir wuchs ein Gefühl großen Respekts für diese Frau und ihr Ringen für das eigene Leben und das ihres Sohnes.
Eine Woche später kam Anatol das erste Mal mit seiner Mutter zu mir. Fünfzig weitere Sitzungen über einen Zeitraum von zwei Jahren sollten folgen. Vor mir stand ein athletischer, sympathischer Junge, der mich mit wachen Augen anschaute und sofort mit mir Kontakt aufnahm. Auf die Frage, was er glaube, warum er hier sei, sagte er: »Weil mein Vater säuft!«Dann begann er zu weinen, eine Mischung aus Traurigkeit und Wut schlug mir entgegen.
Ich war beeindruckt, wie schnell Anatol sich mit seinen Sorgen zeigte. Dann sagte er: »Weißt du, ich bekomme in letzter Zeit immer so viel Angst, dass was Schlimmes passiert, auch habe ich Angst vor meinen eigenen Gedanken!« Anatol ließ erst in der dritten Sitzung zu, dass die Mutter den Raum verließ. Er malte in dieser Stunde ein Bild von einem Haifisch, der er selbst gerne wäre, da bräuchte er keine Angst mehr zu haben vor nichts und niemandem, meinte er. Ich rief den Vater an und vereinbarte ein Gespräch mit ihm alleine, da die Mutter zu diesem Zeitpunkt keine gemeinsamen Gespräche mit ihm wünschte.
Er kam und zeigte sich kooperativ, er mache dies allerdings nur für seinen Sohn, betonte er. Er fand, seinem Sohn ginge es bedeutend besser, wenn sich seine Frau nicht immer so aufregen würde. Der Alkohol war immer wieder ein Problem, gab er zu, aber er sei zuversichtlich, irgendwann würde er dieses Problem schon noch ganz in den Griff bekommen. Er stammte selbst aus einer Alkoholikerfamilie, sei aufgewachsen in einer ländlichen Region Österreichs, in der es üblich war, bei der Feldarbeit zu trinken. »Alle haben da getrunken, Erwachsene und auch wir Kinder.« Er erzählte von seiner ersten Ehe, die am Alkohol gescheitert sei. Er habe einen erwachsenen Sohn aus dieser Ehe, der sei ebenfalls Alkoholiker. Seine zweite Ehe drohe nun abermals zu scheitern, das wüsste er. Er versuche alles, um sie zu retten, auch für Anatol. Es sei nicht gut, wenn ein Junge ohne Vater aufwächst, meinte er. Er habe aber große Probleme, mit Anatol offen über sein Alkoholproblem zu sprechen. Er liebe seinen Sohn sehr und es käme auch vor, dass Anatol zu ihm sagte: »Bitte trinke heute Abend nichts«, und es gelänge ihm dann durchaus, an diesem Abend nichts zu trinken. Er sprach über seine abgebrochenen Therapieversuche, es gab bereits zwei, einmal versuchte er es stationär, einmal ambulant, beide Anläufe waren fehlgeschlagen. Ich hörte deutlich seinen Wunsch, abstinent zu leben und vor allem spürte ich seine aufrichtige Liebe zu seinem Sohn.
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