Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie eigentlich viel zu jung für eine Witwe. Sie hatte sich biegsam und geschmeidig wie Bambus ihrem Schicksal ergeben, sich aber nie brechen lassen. Olga war eine Kämpferin, eine Überlebenskämpferin. Und Olga hatte ein großes Herz. Sie schien eine natürliche Gabe zu besitzen, trotz aller widrigen Umstände, trotz ihrem resoluten Überlebenskampf, sich eine versöhnliche Haltung bewahren zu können. Sie begegnete ihren Mädchen und Trude stets mild und voller Güte. Trude staunte dann und wann: „Was oder wer hatte Olga zum Pilzesammeln in den Wald geschickt? Hast Du da oben meinen Hilfeschrei erhört? Ich gebe Dir noch einmal eine Chance, Gott!“
Es kam, dass Trude gar bei Olga übernachtete und von dort zur Schule ging. Heinrich, der zu Beginn jeden Schritt seiner Tochter mit Argwohn beobachtete, schien sich allmählich daran zu gewöhnen und sich sogar mit den neuen Umständen anzufreunden. Ihm war die Erziehung von jungen Männern geläufig geworden, doch er fühlte sich unbeholfen und unbehaglich, seine Heranwachsende schadlos und keusch für einen zukünftigen Bräutigam durch die Pubertät zu schleusen. Auch wenn er das nie zugegeben hätte, kam ihm Olga insgeheim gelegen. Deshalb ließ ihr Heinrich freie Hand.
Trudes vierzehnter Geburtstag im Oktober 1922 wurde zum schönsten ihres bisherigen Lebens. Olgas Mädchen führten das Geburtstagskind mit verbundenen Augen in die mit Girlanden dekorierte Wohnküche. Sie flochten Trudes Haar und schmückten es mit einem Blumenkranz, dazu sangen sie Lieder. Olga buk ihr einen Geburtstagskuchen, den ersten in ihrem Leben, einen Mohnstollen. Dazu gab es warme Schokolade. Olga hatte aus den Gesprächen herausgehört, dass sich Trude schon immer ein Tagebuch gewünscht hatte, und überraschte sie mit einer schwarzen Kladde und einem Bleistift. Trude war gerührt und konnte ihr Glück kaum fassen.
Später stieß Lena zu der Frauenrunde. Endlich lernten sich Olga und Lena kennen. Lena überreichte ihrer Freundin ihr Geschenk in ein schwarzes Seidentuch gewickelt. Trude tastete durch den Stoff die Konturen eines Buches ab. Es kam eine Ausgabe von Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo zutage. Der Einband war schon etwas speckig und Trude schloss daraus, dass das Buch aus zweiter Hand war. Dies schmälerte ihre Begeisterung jedoch in keiner Weise. Es war gut möglich, dass Lena es gestohlen hatte, war es doch auch für sie nur unter großer Heimlichtuerei möglich, an Literatur zu kommen. Sie fragte ihre Freundin nie, woher sie „den Glöckner“ hatte.
Übermütig schob Trude den rechten Daumen zwischen zwei Seiten, schlug das Buch auf und las laut: „Die Esmeralda war nach Gringoires Urteil ein unschädliches und liebliches Geschöpf; hübsch, und zwar hübsch trotz eines Schmolllippchens, das ihr eigen war; ein harmloses und leidenschaftliches Mädchen, das nichts wusste und für alles sich schwärmerisch begeisterte; dem der Unterschied zwischen einer Frau und einem Manne noch nicht bekannt war, dem dieser Unterschied auch selbst im Traum nicht zum Bewusstsein gedrungen war – das gebaut und geschaffen war wie ein Traum, das vernarrt war vor allem in Tanz, in Geräusch und Getöse, in frische, freie Luft, eine Art Mittelding zwischen Weib und Biene, das an den Füßen unsichtbare Beine hatte und in einem kreisenden Wirbel lebte.“
Trude lachte laut auf. Der Text passte und klang wie ein Weckruf. Sie war doch auch so ein Mittelding zwischen Kind und Frau. Tanz, Geräusch und Getöse! In Trude geriet eine Saite in Schwingung. Sie beschloss an ihrem Geburtstag, wie Esmeralda zu werden: frei und ungebunden, leicht und leidenschaftlich. Ihr Geburtstag sollte das gute Vorzeichen eines neuen Lebensabschnittes werden.
Sie saß zusammen mit den zwei Menschen, die ihr das Leben plötzlich so reich gemacht hatten, am gedeckten Tisch. So etwas Schönes hatte Trude bisher noch nie erlebt. Sie fühlte sich mit einem Mal zugehörig, geliebt und willkommen, sie hätte platzen können vor Glück. Unvorbereitet war es in ihr Leben gekommen. Plötzlich begann Trude wie ein Derwisch um den Tisch herumzutanzen. Sie drehte sich mit ausgebreiteten Armen um ihre eigene Achse, bis sie umfiel und sich mit einem irren Lachen auf den Dielen wälzte. Lena und Olga stürzten sich spaßend auf das Geburtstagskind, kitzelten es. Die Frauen balgten sich wie Welpen auf dem blanken Boden der Bauernküche.
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Lange trug Trude das Bild von Esmeralda mit sich herum. Die Tänzerin von Victor Hugos wurde ihr eine Schwester im Geist. Wie Trude, war auch die Zigeunerin früh ihrer Mutter entrissen worden. Das Buch fand Worte für ihre ungestillte Sehnsucht nach der mütterlichen Geborgenheit. Trude träumte davon, so leichtfüssig zu tanzen und so schön zu sein wie Esmeralda. Es war keine Sache, Olgas Einverständnis zu bekommen, als Trude sie darum bat, dem Folkloreverein Livonia beizutreten. Lena hatte von der fröhlichen Tanzgruppe geschwärmt, die sie besuchte, um aus ihrem goldenen Käfig auszubrechen, und Trude, die stets das Bild von Esmeralda in sich trug, ließ sich nicht zweimal bitten.
Längst hatte Trude sich der Autorität des Vaters entzogen. Am Abend des letzten Schultages band sie ihr kleines Bündel um, schwang sich auf ihr Fahrrad und zog im Birkenhof ein. Olga und die Mädchen rückten zusammen und teilten fortan ihre Schlafkammer mit Trude, die für die Kinder wie eine große Schwester wurde.
Es muss im Hochsommer gewesen sein, denn es war noch taghell und die Erde strahlte spätabends noch Wärme ab, als Trude von ihrem ersten Tanzen am Samstagabend nach Hause radelte, ihr Fahrrad im Schuppen verstaute und zu Olga eilte. Die Älteste saß am Boden und lockte die Katze mit einem Halm aus ihrem Versteck, während die anderen Himmel und Hölle auf dem Gehweg spielten. Trude trippelte und tänzelte vor Olga auf und ab, die auf der Bank an die Hauswand gelehnt dem Abendfrieden frönte, und schwärmte: „Es war großartig! Ich bin so glücklich Olga! Wenn du die Musik hörst, fangen die Beine wie von selbst an zu zucken. Die Kapelle besteht aus Bassgeige, Rahmentrommel, Geige und einer Laute. Der Gesang geht unter die Haut. Die Tanztruppe besteht aus etwa dreißig jungen Männern und Frauen. Sie waren alle sehr freundlich zu mir. Ich bin ja eine der Jüngsten. Lenas Bruder Karel war mein Tanzpartner. Er hat nur gelacht, wenn ich ihm aus Versehen auf die Füße gestiegen bin. Ich habe die Schritte aber schnell erlernt. Karel hat mich am Schluss ganz eng an sich geschlungen und mich herumgewirbelt. Was haben wir gekichert. Wenn ich mich mit den anderen im Kreis drehe, habe ich das Gefühl zu fliegen. Die Trachtengruppe hält die livische Tradition aufrecht. Das erfüllt mich mit Würde und Stolz. Ich habe das erste Mal das Gefühl, zugehörig zu sein und Wurzeln zu spüren.“
Olga folgte der Begeisterung der jungen Frau schmunzelnd. Trude umarmte Olga überschwänglich und setzte sich zu ihr auf die Bank. Olga erzählte von den Liven, was ihr die Eltern weitergegeben hatten. Trude ergänzte Olgas Ausführungen mit ihrem neu erworbenen Wissen über die baltische Kultur. Neugierig kamen die Mädchen näher und hockten sich auf den Boden zu Olgas und Trudes Füßen und lauschten den alten Mythen. Als die Nacht hereinbrach, war die Kleinste, Malena, mit dem Kopf im Schoß der ältesten Schwester eingeschlafen.
Die Trachtengruppe wurde Ende des 19. Jahrhunderts gegründet, um die baltisch-livische Kultur zu pflegen. Trotz ethnischer Zusammengehörigkeit hatte das Volk der Liven keinen eigenen Staat. Ihre Heimat lag im Baltikum zwischen dem Peipus See und der Bucht von Riga. Durch alle Jahrhunderte wurden die Ländereien immer wieder neu verteilt. Wie bei einem Spiel zockten die jeweiligen Machthaber aus Polen, Dänemark, Schweden, Deutschland, Finnland oder Russland beliebig um die Siedlungen. Das Volk arrangierte sich jeweils mit den Herrschern im Wissen, dass sie eines Tages sowieso wieder den Platz räumen würden.
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