Das einfache Bauernvolk war vielmehr darauf bedacht, den in ihren Augen wahren Mächten Tribut zu zollen. Eisige Winter, kurze intensive Sonnenmonate, karge Böden und ein launisches Meer lehrten die Menschen seit Anbeginn, sich mit den Naturgesetzen zu verbünden, statt sie zu bezwingen. Daraus entwickelte sich eine tiefe Verwurzelung in einem uralten Erdenbewusstsein. Die Liven haben sich politisch nicht formiert und nie mit der Faust gegen die Obrigkeiten aufbegehrt. Wohl deshalb ist diese Völkergruppe fast in Vergessenheit geraten.
Die Wurzeln der Liven reichen weit zurück in das Jahrtausend vor der christlichen Zeitrechnung, als die Menschen noch an die Natur und ihre Götter glaubten. Vermutlich hat sich die livische Naturreligion parallel zur keltischen langsam durch die Jahrhunderte entwickelt. Sie hatte einst eine Blütezeit erlebt und sollte dann mit dem Kreuzrittertum ausgerottet werden. Dieses düstere Kapitel der Kirche ist bekannt. Doch sind die Traditionen von Generation zu Generation im Geheimen weitergereicht worden. Ausgestorben sind sie nie ganz. Und als Ende des 19. Jahrhunderts die Gefahr der Inquisition gebannt war, war es möglich, die alten Gebräuche unter dem Deckmantel der Folklore wieder öffentlich auszuleben.
Trude lernte im Folkloreensemble nicht nur die Bräuche und die Tänze der Liven, sondern auch das Nähen und Besticken der Trachten. Trude stellte sich jedoch nicht sehr geschickt an. Auf ihrem schwarzen Schultertuch waren die krummen Kreuzstiche zum Glück nur von Nahem zu erkennen.
Nach und nach blickte Trude hinter die äußere Fassade der Folkloregruppe. Getanzt wurde nicht nur zu Kirchweih oder zur Wiederwahl des Bürgermeisters, sondern im Geheimen zu sogenannten „hohen Zeiten“. Geweihte Tage, wie beispielsweise die Sonnenwenden, regelten den Jahreskreis in heidnischen Traditionen. Livonia hielt heilige Messen von Tanz und Gesang umrahmt ab. Trudes Nackenhaare stellten sich auf, als sie davon hörte. Sie wollte doch nur tanzen und mit Gottes- oder Naturanbetung nichts zu tun haben. Denn sie war mit Gott immer noch nicht im Reinen und die Vorstellung, in die Fänge eines Geheimbundes geraten zu sein, war ihr zuwider. Doch Lena, die ihr wie immer einen Schritt voraus war, überredete Trude, an einer Zeremonie teilzunehmen und sich ihr eigenes Bild zu machen.
Es kostete Trude viel Überwindung, sich in den Kreis der Menschen einzureihen, die sich Hände haltend um einen Baum versammelten. So wie lauter Trommelwirbel vom Spieler als ekstatisch und von außen unerträglich erlebt wird, kam ihr dieser religiöse Kreis suspekt vor. Dieselben Freunde, die ihr sonst vergnügt bei Tanz und Musik begegneten, erkannte Trude jetzt in Stille mit geschlossenen Augen dastehen. Es passte nicht mit dem Bild zusammen, das sie von ihnen hatte.
Die Auffassung, dass die prächtige Linde, um die der Menschenkreis gebildet wurde, eine eigene Seele haben sollte, fand Trude absurd. Der Zeremonienmeister sprach: „Himmel und Erde haben ein eigenes Bewusstsein. Der Baum verbindet sich nun durch Krone und Wurzeln mit diesem göttlichen Sein. Lasst uns unsere Herzen und unseren Geist füreinander und den heiligen Geist der Schöpfung öffnen und uns in Liebe mit ihm verbinden. Wir sind nicht getrennt.“
Trude fand albern, was sie hörte. Doch Lena und dem Tanzen zuliebe ließ sie sich auf das Kinderspiel ein.
„Hüpfen wir halt um einen Baum herum“, dachte sie spöttisch. Sie reihte sich in den Kreis ein, ergriff die Hände der Nachbarn und schloss die Augen wie alle andern. Trude zügelte ihre Ungeduld und zwang sich, entspannt zu atmen. Das gleichmäßige Ein- und Ausatmen, die stoische Ruhe, die nur vom Säuseln der Blätter unterbrochen wurde, beruhigten Trudes inneres Gezappel. Dann spürte sie ein sanftes Kribbeln in den Handinnenflächen, das immer stärker wurde und über die Arme aufstieg und ihren Körper mit einer warmen Welle kitzelte. Es fühlte sich für Trude nicht bedrohlich, im Gegenteil beglückend an. Sie streckte sich, die Augen immer noch geschlossen, durch und öffnete ihren Brustraum, damit sie noch freier atmen konnte. Die Wärme breitete sich in der Herzgegend aus und schien aus ihr herauszuströmen. Die Grenze zwischen ihr und den anderen löste sich auf, Trude fühlte sich in einem schwerelosen, schwebenden Zustand, der sie mit unbändiger Glückseligkeit erfüllte.
Es war wie ein kurzer Moment der Erleuchtung. Sie wurde wie von einem Blitz getroffen. Trude wurde von einer starken Kraft erfasst. Eine Energie von Liebe, Verbundenheit und Einssein mit allem. Es gab kein sie und die andern mehr. Sie befand sich in einem Zustand von allem und nichts. Sie wurde zum Baum und zum Himmel, sie war der Grashalm und die Nachbarin. Alles gleichzeitig. Es war, als hätte sich ihre Schädeldecke zum Himmel geöffnet und alles Wissen dieser Welt strömte durch sie hindurch und könnte von ihr jederzeit abgerufen werden. Es gab keinen Anfang und kein Ende. Und es fühlte sich an, als sei sie Schöpfer und Schöpfung in einem. Trude fühlte sich allmächtig und nichts. In dem Moment erkannte Trude, dass sie und alle Schöpfung aus dieser Quelle entsprungen waren. Trude konnte die Tränen vor Überwältigung nicht zurückhalten.
„Das musste GOTT sein!“
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Nach dieser Initiation nahm Trude regelmäßig an den Naturzeremonien teil. Es gab keine priesterliche Hierarchie. Abwechselnd gestalteten die Teilnehmer die Andachten selbst. Jedem wurde die Fähigkeit, einen feierlichen Rahmen zu gestalten, zugetraut. Der Kreis, der immer am Anfang und Schluss gebildet wurde, symbolisierte die Gleichheit aller Anwesenden. Es wurde großer Wert darauf gelegt, denn im Kreis konnte die spirituelle Energie besser gehalten werden.
Der Inhalt der Messe wurde den Jahreszeiten oder anderen Themen angepasst. Immer wurden vom jeweiligen Zeremonienmeister die Elementarkräfte (Wasser, Erde, Luft, Feuer und Äther) gewürdigt und eingeladen, die feierliche Handlung zu unterstützen. Mit den Elementen wurden Gebete, Opfer, Wünsche zum göttlichen Empfänger transportiert. Sie übten sich darin, die Wesenheiten der Erdgeister zu erspüren und mit ihnen zu kommunizieren.
Trude erkannte, dass der Kirchengott des Vaters zwar ihren Kopf beschäftigte, aber nie ihre Seele berührte. Nach einem Kirchenbesuch fühlte sie sich stets getadelt und zurechtgewiesen. Der Gott der Kirche hatte sie als Frau geduldet, zweifellos aber als Schande der Schöpfung betrachtet. Mit dieser neuen, sinnlichen Annäherung an die Schöpfung und deren Ausdruck über die Natur bekam Trude ein Verständnis für das Zeitlose. Sie liebte es, sich bei einem Ritual zu sammeln und zur Ruhe zu kommen. Sie liebte das Eingebundensein in der Gruppe. Das Unspektakuläre und die Schlichtheit der Treffen fühlten sich gut an. In der Gemeinschaft Livonia war Trude willkommen. Sie war ein Kind der Schöpfung wie alle andern. Es war ein spirituelles Heimkommen. Ein Heimkommen in den Schoß von Mutter Natur, Vater Himmel und zu Geschwistern – den Tanzfreunden. Trude fühlte sich zugehörig.
1925 Die Liebe
T rudes Leben war rund und ganz. In Olgas Obhut hatte sie Arbeit, Schutz und Nahrung. Bei Livonia bekam sie Spiel, Zugehörigkeit und Spiritualität. Der Vater und sein Gott hatten keine Macht mehr über sie. Trude war mit ihrem Leben im Reinen und konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass ihr Leben noch reicher werden könnte.
Am Samstag, dem 4. Juli 1925, warteten alle gespannt auf den neuen Geigenspieler, der in der Kapelle die Lücke schließen sollte. Valentin betrat das Lokal, schaute sich im Raum um und schritt selbstbewusst auf die Musiker zu. Seine gepflegte Erscheinung, seine wohlgeformten Gesichtszüge und die schlanken Hände gefielen Trude auf Anhieb. Im Schutz der Gruppe beobachtete sie ihn und spürte, dass der Neue ihren Herzschlag beschleunigte. Nachdem die Musiker ihn mit einem Handschlag begrüßt hatten, nahm Valentin auf dem zugewiesenen Stuhl Platz, sortierte die Noten und blickte sich abwartend im Raum um. Seine Augen streiften die Tänzer. Seine und Trudes Augen trafen sich und in dem Moment war es besiegelt. Es war ein Wiedererkennen eines vor langer Zeit an einem vergessenen Ort gegebenen Versprechens. Eine innere Stimme sagte Trude, dass sie ihn kannte und dass sie und Valentin zusammengehörten.
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