1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Valentin setzte sich erleichtert. Trude fiel erst jetzt auf, dass er völlig durchgefroren war. Offensichtlich hatte er lange in der Kälte auf sie gewartet. Die junge Frau goss ihm heißen Getreidekaffee ein und hielt ihm ein Stück Brot hin. Valentin tunkte das Brot und schlürfte das Getränk behutsam. Das Schmatzen füllte den Raum. Seltsamerweise entspannten Trude die Laute, sie empfand Zärtlichkeit für diese einfache, menschliche Geste. In dem Moment wusste sie, dass sie Valentin vergeben würde. Ihre Liebe für ihn war stärker als die Demütigung, als die vielen Fragen, als alle Wut und Bitterkeit.
„Danke, Trude!“, durchbrach Valentin das Schweigen. Er sprach, während Trude ihm ohne Unterbrechung zuhörte. Sie erfuhr, dass Valentins Vater ihn gezwungen hatte, den Kontakt zu seiner Verlobten sofort abzubrechen, wenn er die Unterstützung seiner Eltern nicht verlieren wollte. In ihren Augen entsprach Trude nicht dem Bild einer standesgemäßen Ehefrau. Sie setzten ihm das Messer an den Hals. Hätte er sich für Trude entschieden, hätte er sein ganzes Erbe, das Studium und die beruflichen Perspektiven verloren. In wenigen Augenblicken musste er in der verrauchten Stube in Berlin über sein und auch Trudes Schicksal befinden.
Valentin hatte beschlossen, ein allerletztes Mal seinem Vater zu gehorchen. Die Argumente lagen auf der Hand: Ohne finanzielle Unterstützung hätte er sein Studium nicht beenden können. Ohne Ausbildung hätte er den gewünschten Beruf nicht ausüben und ohne Mittel hätten er und Trude nicht die Welt bereisen können. Wissend, dass er fürs Handwerk nicht geschaffen war, sah er nur in seinem eingeschlagenen Berufsweg eine lukrative Zukunft. Für ihn – wie auch für seine zukünftige Frau. Er wog ab und nahm das Risiko, Trude zu verlieren, in Kauf. Als er sich von Trude verabschiedete, wusste er seinen Vater hinter der Gardine zuschauen. Zu diesem Zeitpunkt war er noch überzeugt gewesen, heimliche Weg zu Trude zu finden, um die Situation zu klären. Doch die Einhaltung von Vaters rigoroser Forderung wurde mit Argusaugen überwacht. Der Patriarch hatte seine Kanäle und Hintermänner. In den ersten Wochen nach Berlin hatte Valentin Briefe zu schreiben begonnen, hatte versucht, seine Situation in Worte zu fassen. Doch was hätte er ihr versprechen können? Valentin durfte Trude nicht wiedersehen und musste sein Studium in Leningrad weiterführen. Er hatte alle unvollendeten Briefe zerknüllt und resigniert ins Kaminfeuer geworfen. Valentins Vater beschlagnahmte seine Violine und verbat seinem Sohn zu musizieren. Dieses weibische Gehabe brächte ihn nur in schlechte Gesellschaft, befand die Autorität.
Valentins Vater war ein politischer Wendehals. Er hatte ein Gespür, zur richtigen Zeit die richtigen Verbindungen zu knüpfen. Nach dem Zerfall des Deutschen Kaiserreiches hatte er schnell herausgefunden, welche Geschäftspartner ihm dienlich waren, um bei der gesellschaftlichen Elite vorne mit dabei zu sein. Er war in engem Kontakt mit den Männern an den Schalthebeln der Macht. Es war die Zeit der Weimarer Republik und der Weltwirtschaftskrise. Während die dekadente Oberschicht Tanzpartys veranstaltete, trieben Hungersnöte und Arbeitslosigkeit die Menschen auf die Straße.
Valentins berufliche wie auch private Laufbahn war von Vaters langer Hand geplant und eingefädelt. Der Sohn war eine strategische Figur in seinem Gefüge. Der Patriarch war sich seiner Durchschnittlichkeit bewusst. Er anerkannte, dass Valentin ihn längst menschlich und geistig überflügelt hatte. So war der Sohn der Trumpf im Ärmel. Valentin war Vaters Stolz und ein Versprechen für seine Machtgelüste. Mit Scharfsinn durchschaute der Sohn die Pläne seines Vaters. Solange er wirtschaftlich abhängig war, spielte der Student mit. Er ließ sich auf Veranstaltungen präsentieren und loben. Valentin wusste, wann es galt, wem die Hand zu schütteln. Er lernte, den Damen der Gesellschaft wirkungsvoll Komplimente zu machen. Sein Vater plusterte sich im Hintergrund wie ein Pfau auf und war hochzufrieden mit der Entwicklung seiner Pläne.
Nach dem Studium nahm er eine Stelle als Ingenieur in einer russischen Marinewerft an. Der Moment der Unabhängigkeit war gekommen. Sein eigenes Einkommen erlaubte Valentin, sich abzuseilen. In Leningrad baute er sich jenseits der Einflüsse seines Vaters ein eigenes Beziehungsnetz auf. Die Abkehr beleidigte seine Eltern. Valentin war zum Feind übergelaufen. Für die russische Armee zu arbeiten, war noch schlimmer, als eine Frau zu heiraten, die unter ihrem Stand war. Valentin wurde nicht nur enterbt, sondern auch als Hochverräter verstoßen. Alle Brücken zur Heimatstadt Berlin waren eingestürzt. Dies wurde Valentins Freiheit.
Er war schon seit Tagen um den Hof geschlichen und hatte Trude in ihrem Tagwerk beobachtet. Valentin hatte mit sich gerungen, ob er das Risiko einer Abfuhr auf sich nehmen wollte, hatte geprüft, ob er sich selber sicher war, wollte herausfinden, ob Trude noch frei war, und hatte auf den richtigen Moment gewartet. Das gesicherte Einkommen, eine leise Hoffnung, dass Trude ihn immer noch liebte und sie in der Lage wäre, seinen Bruch irgendwann zu verstehen, gaben ihm Mut, sich seiner Verlobten zu stellen.
Als Valentin seine Schilderung abgeschlossen hatte, glitt er vom Stuhl und kniete sich vor Trude hin. Er fasste nach ihren Händen und sprach: „Trude, du bist die Frau, die ich liebe und begehre. Ich bitte dich um Verzeihung, dass ich dich verletzt habe. Doch ich hoffe, du kannst jetzt verstehen, dass es mir nicht anders möglich war. Ich möchte dich hier und jetzt noch einmal um deine Hand bitten! Wenn du mich nicht willst, werde ich für immer verschwinden.“
Trude hatte ihm die ganze Zeit schweigend zugehört. Sie konnte weder einen klaren Gedanken fassen, noch etwas sagen. Der Gefühlssturm nahm sie völlig in Beschlag und schnürte ihr die Kehle zu. Trude begehrte Valentin, sie war wütend auf ihn und zugleich fühlte sie sich zutiefst verletzt. Mitten im Sturm ruhte jedoch wie ein ruhiger See eine sanfte Instanz, die Valentin bereits verziehen hatte, ihn einfach liebte, nie aufgehört hatte, ihn zu lieben. Trude räumte sich einen Tag Bedenkzeit ein, um in Ruhe alle Gedanken und Gefühle ordnen zu können.
„Auf diesen Tag kommt es nun auch nicht mehr an“, sagte Trude mit belegter Stimme.
Sie verbrachte, von Olga beurlaubt, den Tag in Tartu am Fluss unter ihrer Weide. Stundenlang warf sie Kiesel in den Strom. Mit jedem Wurf wurden Trudes Gedanken klarer. Die lange zurückgehaltenen Tränen konnten sich endlich einen Weg bahnen und frei fließen. Trude seufzte tief und pausenlos, entließ alle Anspannung aus ihrem Körper. Bis es ruhig wurde in ihrer Mitte.
Am Abend erbat sich Valentin ein Nachtquartier. Olga bot ihm ein Lager im Stall an. Mitten in der Nacht schlich sich Trude an den schlafenden Frauen vorbei aus dem Haus. Sie legte sich zu Valentin ins Stroh, rückte eng an seinen Körper. Erst ruhten sie lange Zeit wortlos innig aneinandergeschmiegt. Als hielten sie sich fest, um sich nie mehr loszulassen. In der Morgendämmerung liebten sie sich zum ersten Mal.
Zwischen einer Kuh und einem Ochsen.
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Bis zur Hochzeit im Juli verstrichen fünf Monate. In der Wartezeit nähte Trude die Aussteuer. Sie war nie sonderlich geschickt in Handarbeit. Doch die Aussicht, mit ihrem Liebsten einen Hausstand zu gründen, beflügelte sie zu Höchstleistungen. Mit Bettwäsche und Tischtüchern kamen auch Strampler für ein erstes Kind zur Aussteuer. Der Weidekorb war bis zum Sommer prall mit bestickten Leinen und Wolltüchern gefüllt. Die Metalllaschen am geflochtenen Deckel ließen sich nur mit Einsatz des ganzen Körpergewichts an den Beschlägen festmachen.
Am vierten Juli heirateten Trude und Valentin auf Olgas Anwesen. Es war ein heißer Sommertag. Blumengirlanden, weiße lange Tafeln und herausgeputzte Menschen schmückten die Feier. Am meisten strahlte jedoch das Brautpaar. Neu erblüht sprühte Trude neben ihrem feschen Bräutigam voller Lebensfreude. Und sie freute sich zu tanzen.
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