Sie trafen sich immer samstags am Fluss möglichst unter der Trauerweide, wenn es regnete unter der Flussbrücke. Trude freute sich die ganze Woche auf den spannenden und inspirierenden Austausch mit ihrer Freundin und ließ sich von keiner Witterung abhalten. Sie lasen sich gegenseitig aus den verbotenen Büchern vor. Als sich im September die kühle Jahreszeit ankündete, war es Karel, der ihnen eine Lösung anbot. Er wusste auf dem Unigelände von dem ausgedienten Schuppen neben der Sternwarte. Kommilitonen verschanzten sich dort, um heimlich zu rauchen oder Mädchen zu treffen. Lena schleppte Wolldecken und eine Funzel aus dem Gartenhaus sowie eine Blechdose mit Keksen an.
Für die beiden Mädchen war es der Höhepunkt der Woche, eingemummt in den Decken im fahlen Schein der Lampe eng aneinandergeschmiegt in den Büchern zu schmökern. Lena rückte an einem Samstag mit einer Pappschachtel an. Darin zauberte sie einen Spiegel, eine Haarbürste und Schleifen hervor. Sie zeigte Trude Kniffe, wie sie ihr Haar schöner frisieren konnte. Zu Trudes Verblüffung kamen aus dem Karton zwei Kleider zum Vorschein, die Lena hinterrücks trotz der wachen Mutteraugen wegschmuggeln konnte und Trude schenkte.
Die zwei, drei Stunden verflogen immer viel zu schnell und es wurde den beiden Freundinnen nie langweilig. Das kühne Geheimnis stärkte Trude von innen und trug sie durch die mühselige Arbeitswoche.
Einmal lud Lena ihre Freundin in ein Studentencafé zu einer warmen Schokolade ein. Für Trude, die noch kaum Zucker und Schleckwaren gekostet hatte, war dieses süße Getränk eine Initiation. Sie löffelte das Getränk in ihren Mund, ließ die braune, schwere Flüssigkeit und die geschlagene Sahne auf der Zunge schmelzen und beherrschte sich, Lena nicht mit unanständigen Wohllauten in Verlegenheit zu führen. Trude kicherte stattdessen zu ihrer Freundin: „Das ist so unglaublich köstlich! Ich wette, ein Kuss schmeckt nicht so gut!“
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Der Herbst brachte eisige Winde nach Estland. Mit den Stürmen bahnte sich eine unheilvolle Wende an. Bis weit über den Spätsommer hinaus gelangen die Ausflüge nach Tartu, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Es war leicht, einfach zu verschwinden, weil Vater Trudes An- oder Abwesenheit in der Betriebsamkeit des Hofes nicht aufzufallen schien. Doch das Mädchen wog sich in falscher Sicherheit. Denn einmal stellte Vater seine Tochter unerwartet zur Rede. Verraten haben sie bestimmt nicht Lenas Kleider. Diese trug sie nie zu Hause. In einem Waldstück auf dem Weg nach Tartu tauschte sie jeweils die bescheidenden Röcke gegen die feinen Stoffe aus. Sie hütete die geschenkten Kleider wie einen Schatz und bunkerte sie unter einer losen Bodendiele im Heustock.
Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Ausflüge hatten Vater stutzig gemacht. Es hatte bereits eingedunkelt, als er sie am Brunnen im Hof abpasste. Trude bog pfeifend um die Stallecke in den Hof, bremste erschrocken ab, sprang vom Rad und schritt geknickt ihrem finster dreinblickenden Vater entgegen. Er knurrte: „Trude, du hast dich verändert. Du kommst jetzt in das gefährliche Alter. Ich lasse es nicht mehr zu, dass du mit dem Rad ein bisschen in der Gegend herumfährst! Ich werde dich mit Argusaugen beobachten, Trude!“
Mehr sagte er nicht und wartete auch nicht auf Trudes Antwort. Als sie Luft holte, um ihm etwas zu entgegnen, hatte er sich bereits abgewandt und schlurfte zum Haus. Er ging den Kopf nach vorn gebeugt, ein Buckel zeichnete sich deutlich unter dem dunkelbraunen Kittel ab. Trude sah ihm konsterniert nach, während sie Atemluft durch den offenen Mund ausstieß und mit den Tränen kämpfte. Der Vater hatte es nicht ausgesprochen, aber Trude war sich sicher, dass er überzeugt war, dass sie sich heimlich mit einem Jungen traf. Trude unterdrückte ihre Verzweiflung und folgte ihrem Vater ins Haus. Den Abenddienst verrichtete sie wie immer stoisch und schweigsam. Sie kochte, deckte den Tisch und widmete sich dem Abwasch, während ihre Brüder und der Vater sich im Wohnzimmer um den Holzofen versammelten und sich einer Beschäftigung widmeten. Der Vater las laut aus der Bibel, zwei Brüder schnitzten an ihren Figuren, die jüngeren spielten Schach oder Karten. Trude kniete auf dem Küchenboden und war im Begriff, mit der Bürste die Planken zu schrubben, als sie ihren Namen vernahm. Sie horchte auf, unterbrach ihre Arbeit und lauschte, wie sich Vater und der Älteste über Trudes Zukunft und die künftige Haushaltsführung auf dem Hof berieten. Es war beschlossene Sache, dass der älteste Bruder im Frühjahr seine Braut heiraten und den Hof übernehmen würde. Trude würde dann unter die Obhut der neuen Hausherrin kommen.
„Ich werde dafür sorgen, dass Trude rechtzeitig unter die Haube kommt. Ich möchte nicht, dass sie uns Schande über den Hof bringt! Auf dem Birkenhof gibt es einen Burschen in Trudes Alter. Ich werde morgen in der Kirche seinen Eltern auf den Zahn fühlen, welche Pläne sie mit ihrem Stammeshalter haben“, hörte Trude ihren Vater noch anmerken. Sie tauchte die Scheuerbürste in den Wassereimer und schmetterte sie wütend auf den Boden, dass es in alle Richtungen spritzte.
Später wälzte sich Trude auf ihrem Lager. Sie hatte eine Bettstatt in der Vorratskammer neben der Küche erhalten, als sie vor einem Jahr darum gebeten hatte, nicht mehr mit ihren Brüdern im selben Raum zu nächtigen. Die Kammer war winzig, kalt und finster. Für die Kartoffeln, Getreidesäcke und Schmalztiegel ideal, für ein Schlafzimmer wenig behaglich. Doch sie schlief lieber hier alleine, im behelfsmäßig gezimmerten Nachtlager, als im Schlag mit den sechs Brüdern, die nachts schnarchten und ihren körperlichen Bedürfnissen freien Lauf ließen.
Trude lag lange wach und starrte in die Schwärze. Es musste dringend ein sattelfestes Alibi her! Sie bangte um die kostbare Freundschaft mit Lena. Auf dem Hof konnte sich Trude niemandem anvertrauen. Sie musste eine Lüge erfinden, damit sie sich weiterhin mit Lena treffen konnte. Je länger sie sich wand und Auswege suchte, desto größer wurde ihr Zorn auf die Gefangenschaft, auf die männlichen Wächter und deren obersten Befehlshaber: auf Gott!
Trudes Wut loderte auch am nächsten Morgen weiter. Des Predigers Worte gossen ihr Öl in Zornesfeuer. Nach dem Kirchgang, als der Vater den Gaul vor den Wagen spannte und die Brüder noch mit den anderen der Gemeinde einen Schwatz hielten, büxte sie aus. Kopflos hastete sie in das Waldstück davon, das in der entgegengesetzten Richtung ihres Hofes lag. Sie rannte, bis ihre Lungen brannten, das Herz bis zum Hals hämmerte und die Füße sie nicht mehr trugen.
Sie hielt inne, um nach Atem zu ringen. Danach schritt sie weiter immer mehr in das Holz hinein, ziellos, aber wild entschlossen, Brüder und Vater abzuhängen, falls die ihre Verfolgung aufgenommen haben sollten. Was Trude jedoch bezweifelte. Der feuchte Waldboden war glitschig unter ihren Füßen. Plötzlich ballten sich ihre Fäuste und ihre Augen suchten in den Wipfeln nach einem Adressaten für ihre kochende Wut.
Sollte sich der Allmächtige dort oben verstecken? Sie hatte wenig Erfahrung mit ihm, hatte auf ihre Gebete keine Antwort erhalten. Sie stand nicht in seiner Gunst. Er war in Trudes Augen ein Gott der Männer, der die Frauen nicht liebte. Sollte sich der Schöpfer hier in der Natur verbergen, war es Zeit, Tacheles mit ihm zu reden.
„Du da oben, zeig Dich, wenn es Dich wirklich gibt! Du ungerechter, launischer Geselle! Einen Deut scherst Du Dich um meine Mädchenseele! Wo bleibt Deine Menschenliebe? Gib mir ein Zeichen, was ich tun soll, um Lenas Freundschaft zu behalten! Oder erschlage mich auf der Stelle mit einem Blitz, wenn ich Dir so wenig wert bin!“
Dem Zornesausbruch folgten Tränen. Der über Jahre zurückgehaltene Kummer bahnte sich mit der brachialen Kraft der Wut seinen Weg. Hemmungslos weinend sackte die junge Frau auf den herbstnassen Waldboden. Die jahrelange Selbstbeherrschung fiel in sich zusammen wie die Hülle eines entleerten Getreidesackes. Trude drehte sich auf den Rücken. Sie wand und krümmte sich, immer wieder erfassten sie Tränenwellen und ihre Hände krampften im modrigen Laub nach Halt. Irgendwann, leer geweint, übermannte Trude die Erschöpfung und sie schlief ein.
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