Die Brüder waren nicht gemein zu Trude. Sie teilten sich die Hänseleien gegenseitig aus, wenn der Vater nicht zugegen war, ließen die kleine Schwester aber in Ruhe. Alle Kinder teilten sich ein Schlaflager in einer Kammer oberhalb der Wohnstube. Um zu ihr zu gelangen, musste man eine schmale Stiege zum Giebelzimmer hochklettern. Trude gelang es erst mit sieben Jahren, die schwere Falltür nach oben aufzudrücken und war auf die Hilfe einer der Brüder angewiesen. Ein schlichter Holzrahmen war auf den groben Riemenboden genagelt und diente als Umrandung für Schlafplätze. Der Ordnung halber, teilten sich die Kinder nach dem Alter das Lager. Der älteste Bruder schlief an der Außenwand der Kammer. Trudes Platz war am anderen Ende neben der Falltür.
Einmal im Jahr nach der Ernte wurde ein Fuder frisches Stroh eingestreut und die Flachstücher wurden ausgewechselt. In den ersten Nächten, wenn die Schlafstatt nach gesundem Getreide roch und die Unterlage wieder dick genug war, um nicht auf den blanken Boden abzusacken, lag eine feierliche Stimmung in der Kammer. Überschwänglich Freude zu zeigen, war keinem der Burschen gegeben. Aber Trude spürte, dass ihre Brüder das aufgefrischte Nachtlager als willkommenen Unterschied schätzten. Im Winter, wenn Eisblumen die Luke bedeckten, rückten die Kinder enger zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen.
Das Mädchen lag manchmal lange wach, während ihre Geschwister schon längst selig träumten. Trude lauschte den tiefen Atemzügen, versuchte die Laute den Brüdern zuzuordnen. Manchmal lullte sie diese selbst auferlegte Aufgabe ein, doch oft gelang das Einschlafen nicht auf Anhieb und Trude ging in ihren Gedanken auf Wanderschaft. Es war die einzige Zeit des Tages, die ihr alleine gehörte, in der sie sich eine schöne, heile Welt erschaffen konnte. In den endlosen Nächten erkannte sie bereits als kleines Mädchen, dass einige Gedanken zuträglicher waren als andere. Es tat ihrem Gemüt nicht gut, wenn sie sich die Annahme erlaubte, vom Leben vergessen worden zu sein. Danach fühlte sie sich tagelang niedergeschlagen. Sie spornte sich an, sich schöne Dinge auszudenken. Manchmal faltete sie die Hände und sprach in die Schwärze der Kammer zu dem Gott ihres Vaters.
„Lieber Gott im Himmel. Vater hat mich heute nicht gescholten. Dann ist es ein guter Tag. Kannst du mir bitte helfen, dass er nicht immer so finster dreinschaut? Manchmal stelle ich mir vor, dass er eine neue Frau findet. Alle Männer in der Kirche haben eine Frau. Die sehen glücklicher aus. Ich stelle mir vor, wie er dann in seinen Holzpantoffeln über den Hof zum Stall schlurft und ihr zum Küchenfenster zuwinkt und lächelt. Und wenn Vater lächelt, sind auch die Brüder fröhlicher. Wenn ich daran denke, hüpft mein Herz.“
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Mit dem Ersten Weltkrieg streiften Turbulenzen den Hof. Heinrich war als Exilschweizer von der Wehrpflicht befreit, stand jedoch in der Pflicht, mit der Käserei zur Versorgung der Bevölkerung und Armee beizutragen. Zwischen 1914 und 1920 war Estland von wechselnden Herrschern besetzt. Die Menschen waren angehalten, die jeweilige Sprache der Machthaber zu sprechen. Trude wuchs mit Berndeutsch und Deutsch auf. Mit der Okkupation des Hofes durch sowjetische Truppen lernte sie Russisch. Bei der Befreiung durch die estnischen Widerstreiter 1920 – mit dem Frieden von Dorpat – wurde Estnisch Alltagssprache. So hatte der Krieg für Trudes persönliche Belange eine positive Begleiterscheinung: Sie lernte schnell und konnte sich flink in den Sprachen ausdrücken.
Über die Kriegsjahre quartierte sich jeweils die Kavallerie der Vorherrscher auf dem Hof ein. Die Pferde und Soldaten brachten Leben aufs Gehöft, ihnen hing aber auch Kampfgeruch an. Die Reiter scharten sich um die Feuer und sangen von Ehre und Heimat. Trude gingen die Gesänge durch Mark und Bein. In ihrer kindlichen Unschuld wusste sie nicht, was auf den Schlachtfeldern passierte. Doch mit den Liedern bekam sie eine Ahnung vom Heldentum, von Heimweh und der nackten Angst vor dem Feind und dem Tod. Trude fürchtete die Soldaten ebenso wie sie deren Kameradschaft und Geselligkeit bestaunte. Diese Männer strotzten vor Lebenslust.
Manchmal schlich Trude nach dem Abendessen hinaus mit dem Vorwand, am Brunnen Wasser zu holen, huschte zu den lärmenden Kameraden, versteckte sich hinter einem Fass oder Wagenrad und lauschte den Erzählungen. Die Soldaten schwärmten von ihrer Heimat, von gewonnenen Schlachten und wilden Liebschaften. Trude nahm die Geschichten mit und wenn sie nachts auf ihrem Lager lag, ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf.
„Was gäbe ich darum, ein Mann zu sein! Nicht um des Kriegstaumels willen, sondern um die Welt zu sehen. Ich würde mir ein Pferd satteln, Proviant in ein Bündel packen, auf und davon Richtung Meer reiten!“
1922 Frauenfreundschaft
An ihrem dreizehnten Geburtstag schenkte der Vater Trude zu ihrer großen Überraschung ein gebrauchtes Rad. Es fiel ihr leicht, das Fahren zu erlernen. Wenn sie den Sattel tief stellte, konnte sie den Boden im Sitzen mit den Zehenspitzen gerade erreichen. Im Vorjahr war sie in die Höhe geschossen und hatte an ihrem Körper Veränderungen festgestellt. Sie trug ihre blonden langen Haare jetzt immer zu Zöpfen geflochten unter einem Kopftuch. Unter den Armen und zwischen den Beinen sprießten Härchen, wo vorher keine waren, und ihre Brüste hatten kleine Knospen bekommen. Trude beobachtete ihre körperlichen Veränderungen mit Unbehagen. Die Frauen in der Kirche hatten größere oder kleinere Brüste und manchmal wölbte ein Kind den Bauch einer Mutter. Das war mit bloßen Augen zu erkennen. Trude ahnte, dass ihrem Körper das später auch widerfahren werden würde und fragte sich, wie wohl die schwangeren Frauen unter den Kleidern aussahen.
Trude liebte es, mit dem Rad über Feldwege zu brausen oder durch die lichtdurchfluteten Birkenwäldchen zu fliegen. Sie hielt die Lenkstange fest im Griff und reckte ihren Kopf in die Luft. Wenn Trude fest in die Pedale trat, flatterte der Rock im Fahrtwind. Bergab streckte sie übermütig die Beine in die Luft und flog dem Weg vor sich entgegen. Das Mädchen liebte ihre kleinen Fluchten, die ihr ein unermessliches Freiheitsgefühl schenkten. Je größer der Aktionsradius wurde, desto unbeschwerter konnte sie sich außerhalb der Familie bewegen und desto mehr wurde sie sich aber auch der Beklommenheit zu Hause bewusst.
Nach Tartu brauchte sie etwa eine halbe Stunde mit dem Rad. Sie suchte die Stadt bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf. Trude liebte das Pulsieren, die selbstbewusste Würde, welche die Universitätsstadt ausstrahlte. Wissen und Schöngeist schwebten über allem. Im Frühling stolzierten die Studenten wichtig durch die Alleen. Sie trugen die Uniform und Schärpe ihrer Verbindung mit Würde. Zu viert, zu fünft versammelten sie sich auf den pittoresken Steinbrücken zum Kolloquium. Die Gassen selber protzten über die herangezüchtete Denkerelite.
Trude mischte sich gerne unauffällig unter das akademische Volk. Einmal wurde sie Zeugin des jährlich stattfindenden Wettsingens. Studentenchöre schritten Lieder singend vom Domberg über Engelsbrücke und Teufelsbrücke zum Kussberg. Eine Jury verlieh der lautesten Verbindung einen Preis, doch einem Mädchen auf dem Kussberg einen Kuss zu entlocken, war den Sängerburschen der größere Ansporn. Trude beobachtete das Balzen der Burschen und Kokettieren der Mädchen mit einer Mischung aus Neugierde und Resignation.
Mit offenem Mund bestaunte Trude die Linde im Stadtpark, als sie zum ersten Mal auf sie stieß. Sie war über und über mit weißen Taschentüchern behangen. Es kostete Trude große Überwindung, doch am Ende war ihre Neugierde stärker und sie fragte einen älteren Passanten, was der Sinn hinter diesem ungewöhnlichen Baumschmuck war.
„Guten Tag, Fräulein. Ach, den Geheimnisbaum meinen Sie! Ich persönlich finde ja, das ist Mumpitz. Aber es gibt ja Leute, die an alles glauben. Man munkelt, dass er Wünsche erfüllt. Man spricht seine Bitte in ein Taschentuch und hängt dieses dann in die Wipfel des Baumes. Je höher es hängt, desto wahrscheinlicher sei es, dass der Wind den Wunsch mitträgt und er in Erfüllung geht. Es gibt Mädchen, die feuern ihre Burschen richtiggehend an, sich so waghalsig und weit hinauf wie möglich zu schwingen für ihren gemeinsamen Ehe- oder Kinderwunsch. Ob es sinnvoll ist, das eigene Leben zu riskieren, wage ich zu bezweifeln. Nun ja, jedem das Seine. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, junges Fräulein!“ , sprach der Mann, zupfte den Kragen seines Anzuges zurecht und ging weiter.
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