Trude besaß kein Taschentuch. Aber als sie sich unbeobachtet wähnte, stellte sie sich mit dem Rücken an den Stamm der Linde, blickte durch das Blätterdach zum Himmel empor und sprach in die Wipfel: „Lieber Baum, du bist so prächtig und schön. Ist es wahr, dass du Wünsche erfüllst? Darf ich dir mein tiefstes Verlangen anvertrauen, auch wenn ich das Ritual nicht befolgen kann? Ich wünsche mir so sehr, aus meinem Gefängnis zu entkommen. Ich wünsche mir eine Schwester, mit der ich mich unterhalten und spielen kann. Ich wünsche mir, dass mich kein Ehemann ans Haus fesselt und mir anordnet, was ich zu tun habe. Ich wünsche mir, die Welt zu bereisen. Ich möchte lernen und ich möchte frei sein, wie die Vögel in deiner Krone!“
Trude strahlte über das ganze Gesicht wie schon lange nicht mehr. Sie hatte sich selber zugehört und freute sich ungemein, Worte für ihr Sehnen gefunden zu haben, und über die ungewohnte Leichtigkeit in ihrem Innern. Der Klumpen in der Brust war verschwunden. Überschwänglich umarmte sie den Baumstamm und schaute grinsend weg, als ein Paar vorbeiflanierte und ihr unschickliches Gebaren entdeckte.
Einmal belauschte Trude zwei Studenten, die im Park des Universitätsgeländes auf einer Bank über einen Wiener Neurologen diskutierten. Sie hörte, dass Sigmund Freud auf dem Gebiet der menschlichen Psyche Forschungen betrieb. Die jungen Akademiker ereiferten sich über die neuen philosophischen und psychologischen Erkenntnisse. Dafür bewunderte und beneidete Trude die Studenten. Für sie als Frau war die Tür zu diesem geheimnisvollen Wissen verriegelt. Der Baptistenpriester schalt diese modernen Geisteswissenschaften Gotteslästerung. Hätte der Vater von ihren realen und geistigen Reisen erfahren, hätte er Trude windelweich geprügelt und zum einzig richtigen Pfad, dem absoluten Gehorsam gegenüber Gott, zurück gezüchtigt.
Die junge Frau vermied es tunlichst, ein Wort über die Fluchten zur Universität zu verlieren, und berichtete, wenn der Vater nachfragte, dass sie sich am Ufer der Embach aufhielt, um sich die Zeit zu vertreiben. Dies stimmte an sich auch. Es gab eine Trauerweide an der Uferpromenade, wo sie sich am allerliebsten aufhielt, um ihre Gedanken zu ordnen. An den Stamm gelehnt, behütet von den überhängenden Ästen blickte sie auf den Strom und kam zur Ruhe. Hier vergaß Trude Zeit und Raum. Hier vergaß sie die unabänderliche Bestimmung. Das sanfte Fließen des Wassers zog sie mit in andere Welten. Ihre Fantasie beförderte sie ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie malte sich ein liebevolles Elternhaus, Schwestern und Reisen in andere Länder aus. In ihrer Vorstellung studierte sie an der Universität und wurde selber Professorin. In ihren Gedanken war alles erlaubt. In ihren Gedanken war alles möglich.
Im Sommer vor Trudes vierzehnten Geburtstag ging ihr erster Wunsch in Erfüllung. Lena trat in ihr Leben. Es war ein milder Samstagabend im Juni. Trude hatte nach Erfüllung der Pflichten ihr Rad genommen und war nach Tartu gefahren. An ihrem Lieblingsplatz spielte sie mit Kieseln. Sie versuchte auf dem Wasser treibende Blätter oder Hölzchen zu treffen. Diese Woche war Vater schlecht gelaunt gewesen und hatte seinen Missmut über die karge Heuernte wie gewohnt an ihr ausgelassen. Es tat Trude wohl, mit den Steinen die Anspannung zu entladen. Noch lieber hätte sie ihre ungeordneten Gedanken auf einem Stück Papier aufgeräumt. Sie hatte gesehen, dass die Studenten ständig Notizbüchlein und Stifte mit sich trugen, um eine Beobachtung festzuhalten. Doch für solchen Firlefanz hatte der Vater kein Gehör. Schiefertafel und Kreide genügten für den Schulbedarf.
Als sich Trude für einen kurzen Augenblick aus ihrem Grübeln herausriss und den Kopf hob, sah sie ein Mädchen in ihrem Alter in ein Buch vertieft auf sie zu gehen. Am zielstrebigen Schritt erkannte Trude, dass es ihren Platz anpeilte. Die Unbekannte war jedoch so in die Seiten vertieft, dass sie beinahe über die Wurzeln der Weide stolperte und womöglich sogar ins Wasser gefallen wäre. Trude rief ihr zu, achtzugeben. Der Backfisch blickte Trude verblüfft an, so als hätte sie nicht erwartet, jemanden unter ihrem Baum vorzufinden. Sie hielt ihr offenes Buch vor der Brust und schaute sich suchend nach einem anderen Ort um. Sie machte bereits auf dem Absatz kehrt, als Trude aus einer spontanen Eingebung herausplatzte: „Ist das dein Platz? Ich bin Trude.“
Trude war Gesellschaft willkommen, das Mädchen sah sympathisch aus und sie war neugierig, worin das Mädchen vertieft war. „Hallo. Ich heiße Lena. Ja, das ist mein Lieblingsplatz in der Stadt. Ich komme hierher, um zu lesen“, antwortete das Mädchen mit einem verlegenen Lächeln.
Trude lud Lena mit einer ausladenden Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen und den Baumstamm mit ihr zu teilen. Er wäre ja breit genug für ihre hageren Rücken. Darüber mussten beide lachen. Lena und Trude verstanden sich auf Anhieb. Lena verriet, dass sie an diesem Ort heimlich lesen würde, weil es zu Hause nicht gerne gesehen war. Ihr Vater wäre zwar Geschichtsgelehrter an der Universität, er untersagte aber Lena, anderes zu lernen als den Stoff, den die Mädchenschule vorgab. Seine Gunst und sein ganzer Stolz galt ihrem älteren Bruder Karel. Karel liebte seine kleinere Schwester und erkannte ihren Wissensdurst. Er war ihr Verbündeter und er gab ihr heimlich seine Bücher zu lesen.
Lena und Trude entdeckten schnell einen Berührungspunkt. Beide waren neugierig und lebenshungrig. Beide erduldeten das Schicksal, als intelligente Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft geboren zu sein. Sie verfluchten die Ungerechtigkeit, als Mädchen keinen Zugang zu einer höheren Bildung zu haben. Ihre Perspektiven als Frauen waren voraussehbar. Sie waren auf Gedeih und Verderb einem zukünftigen Mann ausgeliefert. Jegliche selbstbestimmte und von einem Mann unabhängige Lebensausrichtung lag jenseits der Konventionen. Die Notwendigkeit, sich der Gesellschaft unterzuordnen, ließ sie jede auf ihre Art Strategien entwickeln, heimlich Zugang zum verschlossenen Himmel zu finden.
Abgesehen von ihrem Wissensdurst unterschieden sich die beiden Mädchen durchaus. Ihre Herkunft war am Äußeren unverkennbar abzulesen. Trude war als Bauernmädchen in schlichten erdfarbenen Leinenstoffen gekleidet. Sie war meist barfuß oder trug die geflickten, abgetragenen Stiefel der Brüder auf. Ihr war die Aufmachung nicht wichtig oder sie hatte es nie gelernt, sich um ihr Äußeres zu kümmern. Das blonde widerspenstige Haar trug Trude zu Zöpfen gebunden oder bändigte es unter einem Stofftuch.
Lena hingegen war stets elegant und adrett gekleidet. Ihre Kleidung war farblich auf die Jahreszeit perfekt abgestimmt. Das braune, schulterlange Haar trug sie gepflegt mal mit Seitenscheitel, mal mit Schleifen oder zu einer Frisur geflochten. Mit den Accessoires (Hut, Taschentuch, Schmuck) wirkte Lenas Erscheinung wie aus einem Guss. Man konnte die Handschrift einer geschmackvollen Komponistin im Hintergrund erkennen: einer Mutter, welche die Tochter nie ohne strengen Kontrollblick das Haus verlassen ließ. Trude mochte am liebsten Lenas feuerrote Baskenmütze. An ihr konnte sie ihre neue Freundin schon von Weitem erkennen.
Trude war dankbar, dass Lena sie nicht nach ihrem Äußeren bewertete, es schien sie auch nie zu stören. Das Mädchen kam zweifellos aus gutem Haus. Doch das gemeinsame Los, als Frau kein frei bestimmtes Leben führen zu können, schweißte die beiden trotz der großen Unterschiede ihrer Herkunft zusammen. Trude hatte es geschafft, obwohl sie nur über eine spartanische Schulbildung verfügte, sich ein ansehnliches Allgemeinwissen und Schlagfertigkeit anzueignen. Dank ihrer schnellen Auffassungsgabe schnappte sie jegliche Information auf und speicherte diese zuverlässig ab. Sie konnte Lena das Wasser reichen. Diese bemerkte einmal: „Trude, du hast ein Gedächtnis wie ein Elefant!“
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