Es entstand die Frage, ob die von mir postulierten Grundbedürfnisse und Motive tatsächlich – wie ich meine – menschheitsweit gültig sind, ob sie sich auch in allen Kulturen und in allen Zeitepochen finden lassen, oder ob mein Blick zu zeitgeistig und ethnozentriert ist. Wir sind bei der Betrachtung menschlichen Verhaltens und Handelns ja nicht so frei, wie wir zumeist vermuten. Unsere Wahrnehmung ist beeinträchtigt durch unser theoretisches Wissen, dem wir meist mehr gesicherten Wahrheitsgehalt unterstellen, als es tatsächlich verdient. Vor allem aber ist unsere Wahrnehmung auch eingeschränkt durch unsere unbewussten Vorstellungen von der Natur des Menschen und der Gesellschaft, die wiederum in höchstem Maße kulturell und zeitgeistig geprägt sind. Insofern ist mir klar, dass der theoretische Horizont des westlichen Denkens von einer spezifischen Erfahrung durchdrungen ist, bei der die Individualität des Menschen betont wird. Diese Sichtweise des Menschen hat eine lange Geschichte in der westlichen Philosophie und wurde während der Aufklärung vorherrschend. Das Menschenbild der Aufklärung impliziert, dass der Mensch von seinem zwischenmenschlichen Umfeld getrennt gesehen werden könnte. Doch das ist eine Sichtweise, die nicht für alle Kulturen und historische Epochen gilt. Dieses individuelle und klar umrissene Körperbild, das sich deutlich von den anderen Objekten im Universum abhebt und bei dem das Individuum als starke Festung mit einer kleinen Anzahl an Zugbrücken und Toren gesehen wird, die den kontrollierbaren Kontakt zur Außenwelt darstellen, steht im scharfen Gegensatz zum Menschenbild in nicht-westlichen Kulturen.
Wie der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar ausführt, ist beispielsweise ein Mensch aus hinduistischer Perspektive weniger ein Individuum als vielmehr ein Dividuum. Ein hinduistischer Mensch besteht aus Beziehungen: Alle Affekte, Bedürfnisse und Motive sind relational, und Leiden sind Störungen von Beziehungen, und zwar nicht nur der menschlichen, sondern auch derjenigen zur Natur und der kosmischen Ordnung. »Diese Betonung der transpersonalen Natur des Menschen durchdringt medizinische, astrologische, anthropologische und psychologische Theorien in Indien. Im indischen Körperbild werden die innige Verbundenheit mit der Natur und dem Kosmos und der unablässige Austausch mit der Umwelt betont. In der traditionellen Medizin – Ayurveda – gibt es keine Topographie des Körpers mit seinen Organen, sondern nur eine Ökonomie, das heißt Ströme, die hereinkommen oder hinausgehen, in einem asrya (Empfänger) verweilen oder durch irgendwelche srotas (Kanäle) fließen.« 5
Auch das chinesische Menschenbild steht im Gegensatz zum westlichen. Auch hier wird der Mensch nicht als abgeschlossenes Individuum gesehen, sondern als ein aus Energieströmen bestehendes Beziehungsgeflecht. »Der Mensch vereint in sich die Geisteskräfte von Himmel und Erde, in ihm gleichen sich die Prinzipien des Lichten und Schattigen aus, in ihm treffen sich die Geister und Götter …«, heißt es im Buch der Sitte. 6 ›Universismus‹ wird das uralte metaphysische System genannt, das allem chinesischen Denken zugrunde liegt. Danach haben alle Erscheinungen im Makrokosmos im physischen, psychischen und gesellschaftlichen Leben des Menschen ihre Entsprechung, und alles steht in inniger Wechselbeziehung zueinander. Seinen praktischen Ausdruck findet dieses Menschenbild in der traditionellen chinesischen Medizin, in den Ernährungsempfehlungen und in der Tradition der Körper- und Geisteskultivierung. Die Methoden dieser Tradition sind z. B. Tai Chi und Qigong, Meditation, Visualisation, Imagination und geomantische Methoden (Feng Shui), die alle das Chi (die Lebenskraft) positiv beeinflussen und damit Glück, Reichtum und langes Leben verwirklichen sollen.
Das indische ist sehr verschieden vom chinesischen Menschenbild. Trotzdem besteht zwischen beiden eine enge Verwandtschaft, wenn man sie mit dem westlichen Bild des Individuums vergleicht. Beide betonen die transzendente Natur des Menschen und ihre energetische Verflechtung mit der gesamten Umwelt, also nicht nur mit der menschlichen, sondern mit allen sichtbaren und unsichtbaren, materiellen und immateriellen Gegebenheiten.
So führte meine Frage, ob die von mir postulierten Grundbedürfnisse und Motive menschheitsweit gültig sind, ob sie sich auch in allen Kulturen und in allen Zeitepochen finden lassen, zu einer intensiven Beschäftigung mit Werken aus anderen Kulturen und Epochen. Ich habe in der Weltliteratur geforscht, angefangen bei den ältesten Texten der Welt, dem Gilgamesch-Epos, dem I Ging, dem Alten Testament, Homers Ilias und Odyssee, dem Tao te King, dem Mahabarata-Epos usw. bis in die neueste Literatur, welche Motive sich in diesen Mythen und Geschichten finden lassen.
Parallel zu meiner Lesetätigkeit machte ich in meiner Praxis immer häufiger die Erfahrung, dass sich viele Störungen, derentwegen Klienten in ein Coaching oder in eine Therapie kamen, nicht aus deren individueller Geschichte oder ihrer gegenwärtigen Situation erklären ließen. Erfahrungen, die zeigten, dass wir offenbar unbewusst auch von fremden Motiven gesteuert werden und unbewusste Einflüsse – jenseits der genetischen und sozialisierten Determination – unser Erleben und Handeln steuern. Dazu passende Bemerkungen wie z. B. »Ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, dass ich das getan habe« oder »Wie um Himmels Willen bin ich in diese Situation geraten?« führten dazu, dass sich immer mehr das Thema des freien Willens in meinen Wahrnehmungs-Vordergrund schob. Das hatte zur Folge, dass ich mich nun intensiv mit der neuesten Gehirnforschung und mit dem uralten Streitthema zwischen Deterministen und Verfechtern des freien Willens beschäftigte. Die Auseinandersetzung mit den neurobiologischen, philosophischen und psychologischen Erkenntnissen, mit der Literatur aus nicht-westlichen Kulturen und vor allem auch meine praktischen Erfahrungen aus Therapie und Coaching veränderten allmählich mein Menschenbild.
So hat jeweils ein Thema ein neues generiert, und immer wieder entstand dadurch die Notwendigkeit und Lust, erst eine Unmenge von Literatur zum jeweiligen Thema zu lesen. Aus der Überlappung all dieser Themen und ihrem ständigen Überprüfen in der Praxis hat sich in mir allmählich ein sehr ganzheitliches Verständnis darüber herausgebildet, was Menschen im Innersten bewegt und wie sie von äußeren Kräften beeinflusst werden.
Ich erkannte eine bisher völlig übersehene Bedeutung der psychischen Grundbedürfnisse. Bedürfnisse, abgesehen von den körperlichen, werden ja häufig mit der Assoziation von ›Bedürftigkeit‹ gedeutet. In vielen Philosophien und Religionen wird die Askese, also das Unterdrücken oder Befreien von Bedürfnissen als Tugend gesehen. Ich kann mich zwar dem Argument, dass durch Bedürfnislosigkeit (die es m. E. gar nicht gibt, denn auch das Ziel der Bedürfnislosigkeit ist durch ein Bedürfnis motiviert) ein größeres Ausmaß an Unabhängigkeit von Menschen und Situationen erreicht wird, nicht verschließen, aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass damit der eigentlichen Bedeutung der Bedürfnisse nicht Rechnung getragen wird. Das gleiche gilt für die Gefühle. Lange wurden sie als unwichtige und mitunter lästige Begleiterscheinungen des Lebens betrachtet, die man besser nicht beachtet oder unterdrückt und auf jeden Fall dem Verstand unterordnet.
In Gegensatz dazu bin ich zu der Einsicht gelangt, dass sich die Potenziale des Menschen in Bedürfnissen (die sich wiederum in Interessen und Zielen spiegeln) ausdrücken und dass sich im Umgang mit den Bedürfnissen, den eigenen und denen der anderen, das Wesen des Menschen formt. Mir wurde dabei auch immer deutlicher, welche immens wichtige Rolle die Gefühle in diesem ganzen Zusammenhang spielen und dass sie der Schlüssel zum Verständnis unserer selbst sind. Mir wurde deutlich, dass auch der freie Wille, den wir seit der Aufklärung in unserem abendländischen Verständnis so selbstverständlich voraussetzen, ein Potenzial ist, das in uns angelegt ist, das sich im Grundbedürfnis nach Freiheit ausdrückt, dessen Entfaltung aber keineswegs selbstverständlich ist. Im Gegenteil, dieser Entfaltung stehen viele Hindernisse im Weg. Nicht nur die kulturelle und familiäre Sozialisation, vor allem auch die ständig ablaufenden unbewussten Beeinflussungen unseres Gehirns durch innere und äußere Kräfte machen die Entwicklung eines freien Willens zur größten Herausforderung des Menschseins.
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