Es ist nicht schwierig nachzuweisen, dass Psychiatriepatienten, Neurotiker und Psychotiker häufiger einen Elternteil verloren haben als Personen aus der allgemeinen Bevölkerung. 78Aber die Implikationen des Todes eines Elternteils für das Kind sind so weitreichend, dass es der Forschung nicht möglich ist, all die einzelnen Komponenten der Erfahrung zu entwirren und zu gewichten. Es ist beispielsweise aus den Tierexperimenten bekannt, dass die Jungen eine Versuchsneurose entwickeln, wenn sie von ihren Müttern getrennt werden, und viel feindseliger auf Stress reagieren als jene, die bei ihren Müttern bleiben. Bei den Menschen verringert die unmittelbare Gegenwart einer mütterlichen Person die Angst, die durch unbekannte Ereignisse ausgelöst wird. Daraus folgt, dass ein Kind, das seine Mutter verloren hat, viel verletzlicher durch jeden Stress, mit dem es sich auseinandersetzen muss, ist. Das Kind wird nicht nur der Angst ausgesetzt, die von der Todesbewusstheit ausgeht, sondern leidet übermäßig an Angst vor vielen anderen Stressfaktoren (zwischenmenschlichen, sexuellen, schulbezogenen), mit denen es schlecht fertigwerden kann. Daher entwickelt das Kind wahrscheinlich eine Symptomatologie und neurotische Abwehrmechanismen, die sich im Laufe des Lebens überlagern. Die Furcht vor dem persönlichen Tod liegt vielleicht in der tiefsten Schicht und bricht in unverhüllter Form nur selten in Albträumen oder anderen Ausdrucksformen des Unbewussten durch.
Josephine Hilgard und Martha Newman erforschten Psychiatriepatienten, die einen Elternteil früh im Leben verloren hatten, und berichten von einem faszinierenden Ergebnis (das sie »Jahrestagsreaktion« nannten): Eine signifikante Korrelation zwischen dem Alter eines Patienten zur Zeit der Einweisung in die Psychiatrie und dem Alter des Elternteils beim Tod. 79Mit anderen Worten, wenn ein Patient ins Krankenhaus kommt, besteht die nicht nur zufällige Möglichkeit, dass er oder sie im gleichen Alter ist wie sein Elternteil, als dieser starb. Wenn beispielsweise die Mutter eines Patienten im Alter von dreißig starb, besteht für den Patienten im Alter von dreißig ein erhöhtes Risiko. Darüber hinaus ist das älteste Kind des Patienten wahrscheinlich im gleichen Alter, in dem der Patient war, als sein Elternteil starb. Beispielsweise ist eine Patientin, die sechs Jahre alt war, als ihre Mutter starb, psychiatrisch gesehen ein Risikofall, wenn ihre älteste Tochter sechs Jahre alt ist. Obwohl die Forscher die Frage der Todesangst nicht aufwarfen, scheint es möglich zu sein, dass der Tod der ursprünglichen Mutter das Kind – die spätere Patientin – plötzlich der Unvorhersagbarkeit aussetzte: Der Tod der Mutter signalisierte dem Kind, dass es auch selbst sterben muss. Das Kind verdrängte diese Schlussfolgerung und die sie begleitende Angst, die unbewusst blieb, bis sie durch den Jahrestag ausgelöst wurde – also dadurch, dass die Patientin das Alter erreichte, in welchem ihr Elternteil starb.
Der Grad des Traumas ist zu einem großen Ausmaß eine Funktion des Grads an Todesangst in der Familie. In vielen Kulturen nehmen die Kinder an den Todesritualen teil. Sie haben manchmal feste Rollen bei Begräbnissen oder anderen Todesritualen. In der Foré-Kultur auf Neu-Guinea beispielsweise nehmen die Kinder an dem Ritual des Verspeisens eines verstorbenen Verwandten teil. Höchstwahrscheinlich ist diese Erfahrung für das Kind nicht katastrophal, weil die Erwachsenen an der Aktivität ohne ernsthafte Angst teilnehmen; es ist Teil eines natürlichen ungehemmten Lebensstroms. Wenn jedoch, wie häufig in der westlichen Kultur, ein Elternteil ernsthafte Angst vor den Todesfragen hat, dann erhält das Kind die Botschaft, dass es viel zu fürchten gibt. Diese elterliche Mitteilung kann besonders wichtig für jene Kinder sein, die ernsthafte physische Krankheiten haben. Wie Marian Breckenridge und E. Lee Vincent es formulierten, »Die Kinder fühlen die Angst ihrer Eltern, dass sie sterben können, und neigen daher dazu, ein vages Unwohlsein mit sich herumzutragen, welches gesunde Kinder nicht empfinden.« 80
Die Todeserziehung von Kindern
Viele Eltern, vielleicht die meisten in unserer Kultur, versuchen, die Realitätswahrnehmung in der Todeserziehung schrittweise zu erhöhen. Junge Kinder werden vor dem Tod abgeschirmt; sie werden ausdrücklich fehlinformiert; die Verleugnung wird ihnen früh im Leben eingegeben mit Geschichten vom Himmel oder von der Wiederkehr der Toten oder mit der Versicherung, dass Kinder nicht sterben. Später, wenn das Kind »bereit ist, es anzunehmen«, erhöhen die Eltern allmählich die Dosis an Realität. Gelegentlich nehmen aufgeklärte Eltern einen dezidierten Standpunkt gegen Selbsttäuschung ein und weigern sich, ihren Kindern die Verleugnung der Realität beizubringen. Sie finden es jedoch schwierig, auf das Angebot von Trost durch irgendeine realitätsnegierende Versicherung zu verzichten – entweder eine schlichte Verleugnung der Sterblichkeit oder einen Mythos über eine lange Reise nach dem Leben –, wenn ein Kind erschreckt oder gequält ist.
Elisabeth Kübler-Ross missbilligt die traditionelle religiöse Praxis, Kinder mit »Märchen« über den Himmel, Gott und die Engel zu indoktrinieren, scharf. Aber wenn sie ihre Arbeit mit Kindern beschreibt, die über den Tod besorgt sind – ihren eigenen oder den ihrer Eltern –, ist es offensichtlich, dass auch sie Trost anbietet, der auf Verleugnung gründet. Sie informiert die Kinder, dass man im Augenblick des Todes transformiert oder befreit wird »wie ein Schmetterling« für eine tröstliche verheißungsvolle Zukunft. 81Obwohl Kübler-Ross darauf besteht, dass dies nicht Verleugnung, sondern Realität ist, die auf objektiver Forschung über Erfahrungen nach dem Tode basieren, bleibt der empirische Beweis unveröffentlicht. Die gegenwärtige Position dieser bemerkenswerten Therapeutin, die sich dem Tod unerschrocken stellte, weist darauf hin, wie schwierig es ist, sich mit dem Tod ohne Selbsttäuschung auseinanderzusetzen. Soweit ich es beurteilen kann, unterscheiden sich die »objektiven Daten« von Kübler-Ross nicht in bedeutsamer Weise vom traditionellen religiösen »Wissen« durch Glauben.
Es gibt in unserer westlichen Kultur klare Erziehungsrichtlinien für solche Bereiche wie physische Entwicklung, Informationsaneignung, soziale Fähigkeiten und psychologische Entwicklung; aber wenn die Todeserziehung ansteht, sind die Eltern weitgehend auf sich selbst gestellt. Viele andere Kulturen bieten einige kulturell akzeptierte Mythen über den Tod an, die den Kindern ohne Ambivalenz oder Angst übermittelt werden. Unsere Kultur bietet keine erkennbaren Richtlinien an, denen Eltern folgen könnten; trotz der Allgemeingültigkeit des Themas und seiner entscheidenden Bedeutung in der Entwicklung des Kindes, muss jede Familie nolens volens entscheiden, was sie ihren Kindern beibringt. Oft werden den Kindern Informationen gegeben, die obskur sind, vermischt mit elterlicher Angst, und die wahrscheinlich im Widerspruch zu anderen Informationsquellen in der Umgebung stehen.
In den Reihen professioneller Erzieher herrscht extreme Uneinigkeit über die Todeserziehung. Anthony empfiehlt, dass die Eltern die Realität dem Kind gegenüber verleugnen sollten. Sie zitiert Sandor Ferenczi, der sagte, dass »die Verneinung der Realität eine Übergangsphase zwischen dem Ignorieren und dem Akzeptieren der Realität ist«, und er behauptet, dass das Versagen der Eltern bei der Unterstützung der Verleugnung seitens des Kindes zu »einer Neurose führen kann, in der Todesassoziationen eine Rolle spielten.« 82Anthony fährt fort:
Die Argumente für die Unterstützung der Realitätsakzeptanz sind stark. Trotzdem gibt es in diesem Zusammenhang eine Gefahr. Das Wissen, dass die Verleugnung selbst das Akzeptieren erleichtert, kann die Aufgabe der Eltern vielleicht weniger schwer machen. Sie mögen die Anklage der Unzuverlässigkeit, des Lügens vorausahnen, wenn das eigene Bedürfnis des Kindes nach Verleugnung vorbei ist. Wenn sie offen angeschuldigt werden, können sie antworten: »Du konntest es damals nicht annehmen.« 83
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