Neue Entwicklungen
Aktuell zeichnet sich allerdings eine neuerliche Wende im Diskurs ab. Bedingt durch den sogenannten demografischen Faktor, schließt sich die Schere zwischen Ausbildungsplatznachfrage und -angebot in Deutschland tendenziell wieder, sodass die pädagogische Übergangsförderung im Hinblick auf die Vermeidung eines drohenden Fachkräftemangels wieder an Gewicht gewinnt. Zugleich haben in etlichen anderen Ländern Europas die Jugendarbeitslosigkeitszahlen eine Höhe erreicht, die sich nicht mehr mit individuellen Qualifikationsdefiziten erklären lässt.
Die Erfahrung, dass die Unwägbarkeiten des Fördersystems durch Rechtsgrundlagen und Maßnahmen übergreifender Planung und Begleitung auf der individuellen Ebene zu bewältigen sind und für einzelne Jugendliche ein abgestimmtes Förderkonzept erreichbar ist, hat zur Forderung beigetragen, das Fördersystem auch auf struktureller Ebene so abzustimmen, dass kein Jugendlicher in die Gefahr kommt, auf dem Weg in den Beruf verloren zu gehen.
Der verblassende Mythos des Matching
Unabhängig von dem lange Zeit herrschenden Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen verweist eine gleichbleibend hohe Quote von Ausbildungsabbrecher/innen (BMBF, 2006, S. 24) auf Defizite in der Berufswahlorientierung und der Passung zwischen institutionalisierter Lenkung, betrieblichen Anforderungen und subjektivem Bewältigungspotenzial. Allen Angeboten der Berufsberatung und -orientierung zum Trotz wird mindestens jeder fünfte Ausbildungsvertrag wieder gekündigt, die meisten davon innerhalb des ersten Ausbildungsjahres. Im Jahr 2011 betrug die Quote der vorzeitig gelösten Ausbildungsverträge sogar 24,5 Prozent (vgl. BIBB, 2013, S. 189). »Als Grund für die Beendigung ohne Abschluss gibt mehr als die Hälfte (53 %) der Jugendlichen an, die Ausbildung sei nicht das Richtige für sie gewesen« (a. a. O., S. 110). Betrachtet man zudem die unverändert fortbestehenden geschlechtsspezifischen Differenzen in der Berufswahl oder den nach wie vor deutlich geringeren Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im dualen Ausbildungssystem, so wird deutlich, dass Berufsfindungsprozesse einer Komplexität unterliegen, die durch die etablierten Steuerungsmittel, durch Informations- und Beratungsangebote nur bedingt beeinflusst werden kann.
Gleichwohl definiert das deutsche Schulsystem Berufsorientierung als Querschnittsaufgabe für alle Schularten, die nicht direkt auf die Erlangung der Hochschulreife ausgelegt sind (Niemeyer & Frey-Huppert, 2009). Zusätzlich halten das Internet und der Buchhandel für Schulabgänger/innen eine Vielfalt an Angeboten bereit, die sich auf detaillierte Informationen zu Ausbildungsgängen 20, Berufswahltests 21und der auch in diesem Bereich unüberschaubaren Fülle an Ratgeberliteratur erstreckt. Fast allen diesen Angeboten gemeinsam ist die wenig hinterfragte Grundannahme, dass Jugendliche vor allem detaillierte Informationen benötigen, um den »richtigen« Beruf zu finden. Diese »richtige Berufswahl« erscheint dabei als das Ergebnis eines Passungsprozesses zwischen einer relativ statisch gedachten Ausstattung an Talenten und Fähigkeiten des Jugendlichen und einem definierbaren Angebot auf dem Arbeitsmarkt mit klar umrissenen Qualifikations- und Anforderungsprofil.
Diese Sichtweise geht auf den Trait-and-Factor-Ansatz von Frank Parsons (1909) zurück. Parsons geht davon aus, dass Menschen spezifische psychische Persönlichkeitsmerkmale aufweisen, aus denen sich eine Eignung für klar abgrenzbare Berufs- und Tätigkeitsfelder ableiten lasse. John Holland operationalisierte diesen Ansatz anhand von sechs Persönlichkeitstypen, die sich aus den Präferenzen in der Herangehensweise an Aufgabenstellungen definieren (Weinrach & Srebalus, 1994). Das vielbeschworene Matching hat hier seinen Ursprung – und damit im Jahre 1909, in dem Parsons seine Theorie veröffentlichte. Trotz aller Modernisierungen des Trait-and-Factor-Ansatzes und der Entwicklung eines ausgefeilten Instrumentariums an Berufswahltests, die sich nach wie vor zumeist an der von Holland entwickelten Typologie orientieren, hat sich die Grundannahme erhalten, Mensch und Arbeitswelt müssten in Übereinstimmung gebracht werden, um dem Individuum ein glückliches (Berufs-)Leben zu ermöglichen. Weder Individualisierung, lebenslanges Lernen noch andere Beschreibungen der grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne und Postmoderne konnte dem Mythos des Matching etwas anhaben. Spricht man aber mit Jugendlichen über ihre Erfahrungen mit Unterstützungsangeboten im Übergang zwischen Schule und Beruf, so wird schnell deutlich, dass die Vielfalt der Angebote die Einfalt der Grundannahme nicht überdecken kann. Die Jugendlichen sehen sich einer Angebotspalette gegenüber, die sich weniger an ihrer Lebenswelt und der in sie eingebetteten Entwicklungsaufgaben orientiert, sondern nach wie vor darauf setzt, in einem Optimierungsprozess eine frühzeitige und nachhaltige employability (Beschäftigungsfähigkeit) zu erreichen.
Diese Diskrepanz zwischen Anforderungen auf der Subjektebene auf der einen Seite und den Unterstützungsangeboten im Berufsorientierungsprozess auf der anderen Seite spiegelt sich auch im fachwissenschaftlichen Diskurs wider. Die konzeptionelle Ausrichtung von Berufsberatung »degeneriere« vor dem Hintergrund der anhaltenden Wirkung von Parsons bzw. Holland, wie Nestmann (2010) bemerkt. Erkennbar sei dies vor allem in einer erweiterten Praxis der Berufsberatung als guidance »zur Erhebung von diagnostischer Information über den Klienten, die Bereitstellung von Bildungs- und Berufsinformationen und den Versuch, über eine rational kognitiv gesteuerte Entscheidung eine möglichst genaue Passung von Person und Bildungsgang, Berufsentscheidung oder Laufbahnwahl herzustellen« (Nestmann, 2010, S. 61). Zeitgemäßer erscheint demgegenüber ein Konzept der »positiven Nichtsicherheit«, das herkömmliche Entscheidungsmodelle um Aspekte des kreativen Umgangs mit komplexen und in sich offenen Situationen erweitert. Berufsfindungsprozesse werden dabei nicht als »Matheaufgabe« begriffen (»Errechne aus den vorhandenen Informationen deinen Traumberuf«), sondern als Treibstoff oder Anregung für einen subjektzentrierten biografischen Prozess (Gelatt, 1989, 1991, 1992; Gelatt & Gelatt, 2003). In dieselbe Richtung verweisen Konzepte einer biografieorientierten Beratung und Begleitung individueller Berufsfindungsprozesse (vgl. zusammenfassend Dausien, 2010).
Neue Vorzeichen in der Berufsorientierung und Berufsvorbereitung
Wenn im folgenden Abschnitt eine systematisierende Perspektive auf das aktuelle deutsche Übergangssystem entworfen wird, dann liegt dieser ein weiter Übergangsbegriff zugrunde, der alle pädagogischen Aktivitäten umfasst, die mit dem biografischen und institutionellen Wechsel von der Schule in das Erwerbsleben verknüpft sind. Dazu gehören sowohl berufsorientierende und -beratende Angebote innerhalb allgemeinbildender Schulen als auch berufsvorbereitende Maßnahmen, ausbildungsbegleitende Hilfen sowie sämtliche Angebote zur Reduzierung von Jugendarbeitslosigkeit. Bereits das Nebeneinander der Begriffe Berufsorientierung, Berufsvorbereitung, Übergangssystem verweist auf eine mehrperspektivische Betrachtungsweise, die darauf abzielt, die vielfältigen problemorientierten Aktivitäten zur Verbesserung des Übergangs von der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung zusammenzudenken. Bislang vorliegende Theoretisierungsansätze der komplexen Übergangsproblematik sind überwiegend monoperspektivisch ausgerichtet. Dabei kann differenziert werden zwischen folgenden Perspektiven:
•Biografische oder Subjektperspektive: Sie nimmt die vielfältigen Orientierungs- und Förderangebote in Bezug auf individuelle Einmündungskarrieren in den Blick und thematisiert dabei sowohl individuelle, biografische Benachteiligungen als auch das Handlungs- oder Bewältigungspotenzial der benachteiligten Jugendlichen.
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