1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Auch die Beziehung zwischen Regisseur und Spieler sollte gezeichnet sein von gegenseitiger Offenheit, und zwar als Wechselbeziehung, von der beide Seiten profitieren, voneinander lernen und sich inspirieren lassen sollten, mit der Achtung vor der Autonomie des andern.
Grotowskis ‹Vermächtnis› für die Theaterpädagogik liegt vor allem im Verständnis, dass sich der Spieler/die Spielerin ganzheitlich, also mit Körper, Seele und Geist in das Spiel einbringt, um dadurch den Prozess des Theatermachens in Gang zu setzen. Weiter gab er auch der Spielleitung bzw. der Beziehung und der Interaktion zwischen Regie und Spieler ein neues Gewicht und eine entscheidendere, prägendere Bedeutung.
Die Impulse, die von Grotowski ausgingen, prägten auch Theaterschaffende wie Augusto Boal oder Peter Brook und viele andere Regisseure des zeitgenössischen Theaters, wenngleich seine Methoden heute nicht mehr in der ursprünglichen Radikalität eingefordert werden. «Die Substanz des Mediums Theater ist der Schauspieler, seine Aktionen und was er durch sie bewirken kann.» (Grotowski (1966), o.S., zit. nach Ehlert (1986), S. 31)
Augusto Boal
Augusto Boal wurde 1931 in Rio de Janeiro geboren. Nach Studien der Chemie und Theaterwissenschaft gründete der erst 25-Jährige ein eigenes Theater in Brasilien. Es war die Zeit der politischen Liberalisierung und vieler staatlicher und kirchlicher Alphabetisierungsprogramme.
Die zugleich als Politisierung verstandene Alphabetisierung stützte sich vor allem auf Ansätze des Pädagogen Paulo Freire: «Lernen ist nicht das Fressen fremden Wissens, sondern die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation als Problem und die Lösung dieses Problems in Reflexion und Aktion.» (Zit. nach Ehlert (1986), S. 34). Lernen wird also nicht als Eintrichtern, sondern als Problematisieren verstanden.
Boals ‹Teatro de Arena› arbeitete eng mit Alphabetisierungsgruppen zusammen, versuchte mit Stücken, die die Lage der Landbevölkerung thematisierten, Aufklärung zu betreiben und durch die Konfrontation der Bevölkerung mit ihrer politischen und gesellschaftlichen Lage Fortschritt zu bewirken.
Bis zur politischen Trendwende 1964 multiplizierte sich Boals Idee: viele Gruppen waren in ganz Brasilien unterwegs. Theater sollten nicht Vergnügungstempel sein, sondern Orte der Reflexion und des Lernens, ganz im Sinne Brechts.
Die Zensur verbot in der Folge der politischen Umwälzungen nach den Jahren der ‹Kubaisierung› Boals bisherige Theaterarbeit; erlaubt waren nurmehr Klassikerinszenierungen ohne jeglichen politischen Gehalt. Boal suchte als Reaktion nach Formen der Vereinfachung von Bühnenbild und Kostümen, nach Möglichkeiten, ohne grossen Aufwand Spiele irgendwo zu etablieren und Fragen aufzugreifen. Er suchte nach Formen hoher aktiver Beteiligung des Publikums, das den Fortgang der Handlung mitbestimmen und in das Geschehen aktiv eingreifen konnte.
1971 wurde Boal von der brasilianischen Geheimpolizei verhaftet und verschleppt und erst auf internationalen Druck hin wieder frei gelassen. Boal verliess darauf das Land und lebte bis 1986 im Exil, zuerst in Argentinien, später in Portugal und schliesslich in Paris, wo er an der Sorbonne einen eigenen Lehrstuhl erhielt. 2009 starb er in Rio de Janeiro.
Boals ‹Theater der Unterdrückten› wie auch die später entwickelten Formen – vom ‹unsichtbaren Theater› oder ‹Statuentheater› bis hin zum ‹Forumtheater› – sind Antworten auf die repressive Politik in Lateinamerika. Boal wollte Bauern und Arbeiter aufklären, verändern und in ihren Autonomiebestrebungen unterstützen.
Die von Boal entwickelten Arbeitstechniken sind theaterpädagogisch relevant: Oft wird über das Bauen von Statuen gearbeitet; das ‹Freeze› – das Einfrieren und das Stellen von Gruppenbildern – zählt zu den häufigen Arbeitsformen und Techniken, um Wahrnehmung zu schulen, und zwar sowohl die Selbstwahrnehmung über Körperhaltungen als auch die Ausseninterpretation von Wirkungen und Situationen.
Insbesondere im Jugendtheaterbereich ist Forumtheater auch heute noch eine gängige Form: Eine Szene wird dem Publikum in einer ersten Variante vorgespielt; in der Regel endet sie in der grösstmöglichen Katastrophe. Nun lässt der Spielleiter die Szene wiederholen und fordert das Publikum auf, die Szene dort zu unterbrechen, wo eine Veränderung des Verhaltens des (bzw. eines) Protagonisten gewünscht wird. Der Zuschauer/die Zuschauerin klatscht an dieser Stelle und beeinflusst über Verhaltensbeschreibungen via Spielleiter den weiteren Verlauf der Szene. Mit der Zeit sollen die Zuschauenden auch selber die Rollen auf der Bühne übernehmen und so agieren, wie sie es sich vorstellen. Immer wieder kann so über Verhaltensveränderungen der Figuren der Verlauf, die Entwicklung einer Szene variiert und in ihrer Auswirkung überprüft werden. Forumtheater ist dabei nicht nur für die Zuschauenden eine gute Möglichkeit der Wahrnehmung und der ‹Regieführung›, sondern auch eine gute Übung für die Spielenden, Anweisungen spontan und präzise im Spiel umzusetzen.
Theaterpädagogisch relevant ist Boals Ansatz aber nicht nur hinsichtlich der relativ strikten Spielformen, sondern auch des gemeinsamen Entwickelns einer Handlung, der Überprüfung dieses Handlungsverlaufs im steten Dialog, in der Diskussion der möglichen Konsequenzen. Boals Haltung ist also auch eine pädagogische, demokratische und gemeinschaftsbildende Arbeitsweise.
Lee Strasberg
1901 in den USA geboren absolvierte Strasberg seine Schauspielausbildung am American Laboratory Theatre. Bis 1937 war er Coleiter und Mitglied des Group Theatre, dann zog er nach Hollywood. Ab 1951 war er Leiter des Actor›s Studio in New York. Später gründete er weitere Ausbildungsstätten in Los Angeles. Strasberg starb 1982.
Strasberg und sein Actors Studio waren für ganze Generationen von amerikanischen (Film-)Schauspielerinnen und Schauspielern prägend. Seine berühmte Methode – ‹The Method› – wurde zur Grundlage etlicher Schauspielschulen weltweit. Strasberg berief sich in seinem Ansatz stark auf Stanislawski: Die Gefühlswelt der Figur sollte sich eng mit dem Schauspieler verbinden. Mithilfe der Aktivierung des affektiven Gedächtnisses und ausgehend von persönlich Erlebtem entsteht Echtheit der Gefühle. Der Schauspieler nähert sich also über eigene Grundempfindungen, über Erlebtes und Erfahrenes einer Figur und füllt diese mit sich selber aus: Der Spieler ist nicht die Figur, aber er füllt sie mit sich. So gelingt ihm auch die notwendige innere Distanz zum Handeln der Figur und er behält die Distanz zur Reflexion seines Tuns.
Keith Johnstone
Mit seinen Improvisationstechniken und insbesondere auch mit seiner Arbeit mit Jugendlichen hat Johnstone viele Theaterpädagogen geprägt. Johnstone wurde 1933 geboren, war Theaterautor und Schauspiellehrer und von 1956 – 66 Leiter der Autorenwerkstatt am Royal Court Theater und damit Förderer vieler grosser Autoren wie Edward Bond oder Arnold Wesker. In späteren Jahren lehrte er an etlichen Schauspielschulen Europas, bevor er einen Lehrstuhl in Calgary, Kanada, übernahm.
Johnstone entwickelte neue Improvisationsformen wie ‹Theatersport› und machte sich stark für ein Theater, das die Kluft zwischen Bühne und Zuschauer überwinden sollte. Er kämpfte für eine Öffnung der Theater nach aussen, für grösseren Gesellschaftsbezug und eine stärkere Verknüpfung von Existenzfragen mit dem Schauspiel und damit für einen höheren Gegenwartsbezug und grösseres Realitätsbewusstsein. Vor allem ging es ihm auch um Spontaneität und das Zulassen der Fantasie: «Viele Schüler blockieren ihre Phantasie, weil sie Angst haben, nicht originell zu sein. Sie glauben genau zu wissen, was Originalität ist […].» (Johnstone (2000), S. 148) Dies ist der Kern von Johnstones Lehre: «Schalte den verneinenden Intellekt aus, und heisse das Unbewusste als Freund willkommen. Es wird dich an Orte führen, die du dir nicht hast träumen lassen und es wird Dinge hervorbringen, die origineller sind als alles, was du erreichen könntest, wenn du Originalität anstrebst.» (Wardle (2000) Johnstones Improvisationsbezug ging zudem stark vom ‹Spielmaterial› aus, das jeder Mensch mit sich trägt und einbringen kann: Eigene Geschichten und Erlebnisse, Alltägliches, Begegnungen aus dem Hier und Jetzt. Man soll also nicht weit hergeholte Figuren zu spielen suchen, sondern bleibe mit den Themen und Figuren nahe der eigenen Welt. Der Alltag ist voll von spannenden Geschichten und Begegnungen.
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