Marcel Naas
Praxisschock
Wie sich Nico Sommer über den Theorie-Praxis-Graben rettet
ISBN Print: 978-3-0355-1359-2
ISBN E-Book: 978-3-0355-1360-8
Gestaltung: Isabell Schmidt-Borzel, Konstanz
Illustrationen: Eugen U. Fleckenstein, Winterthur
1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.com
Vorbemerkung
Prolog
Klassenführung
«Warum tun sie nicht, was ich sage?»
Wissenserwerb
«Warum wissen sie nichts mehr?»
Motivation
«Warum beginnen sie nicht zu arbeiten?»
Metakognition und Selbststeuerung
«Warum lernen sie nicht selbstständig?»
Verstehen und Anwenden
«Warum wenden sie das Gelernte nicht an?»
«Praxisschock» steht groß auf dem Buchumschlag, und wenn der Untertitel nicht wäre, könnte man meinen, der Berufseinstieg sei eine hoffnungslose Angelegenheit. Das trifft selbstverständlich nicht zu. Angehende Lehrpersonen werden in vielen Praktika bestmöglich auf die bevorstehende Berufspraxis vorbereitet, sodass sie eben genau keinen Praxisschock erleiden. Wenn es – wie in diesem Buch beim fiktiven Berufseinsteiger Nico Sommer – trotzdem zu einem kommt, dann oft, weil die Verbindung von Theorie und Praxis nicht hergestellt wird. Oder anders formuliert: Wenn jemand denkt, nach der Ausbildung die Theorie endlich hinter sich lassen zu können, täuscht er sich gründlich. Wer geschockt und leicht desillusioniert nach schneller Hilfe sucht, landet meist bei Ratgeberliteratur. Dazu gehört dieses Buch definitiv nicht.
Als ehemaliger Sekundarlehrer weiß ich, dass allgemeine Tipps oft zu kurz greifen. Und nach meinem Studium der Erziehungswissenschaft und aus der jetzigen Sicht als Dozent an der Pädagogischen Hochschule liegt es mir umso ferner, eine Sammlung von Praxisrezepten zu veröffentlichen. Vielmehr möchte ich die Verbindung zwischen Theorie und Praxis aufzeigen und stärken. Es gibt für Situationen oder Fragen in der Schulpraxis immer viele und diskutierbare Lösungen – und es gäbe selbstverständlich auch andere Antworten als jene aus der Pädagogischen Psychologie und der Allgemeinen Didaktik. Ich analysiere und erkläre aus diesen Perspektiven, weil sie mir die vertrautesten sind.
Dieses Buch ist ein theoretisch gestützter Praxisbericht aus dem Leben eines Berufseinsteigers, der allerhand typische, zuweilen überzeichnete Situationen des Schulalltags erlebt. Nico Sommer ist erfunden. Ich habe mit ihm so etwas wie einen Wunschstudierenden oder eine Wunschlehrperson kreiert, denn er verlässt sich nicht nur auf die Versuch-Irrtum-Methode, um Erfahrungen zu sammeln und so qua learning by doing zum besseren Lehrer zu werden. Er versucht stattdessen, Theorie und Praxis zu verknüpfen, also gelernte Theorie in der Schulpraxis anzuwenden oder das Unterrichtsgeschehen theoretisch zu reflektieren – ganz im Sinne des reflective practitioners von Donald A. Schön.[1]
Die Grundidee des Buches ist, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, an Nicos Gedanken teilhaben können und so nicht nur sehen, wie er handelt, sondern verstehen, weshalb er so handelt. Zur besseren Übersichtlichkeit sind seine Gedanken jeweils kursiv gesetzt.
Da Nico kein Erziehungswissenschaftler ist, erklärt er in seinen Gedanken nicht immer die ganze dahinterstehende Theorie und definiert nicht jeden Fachbegriff. Wer sich also noch mehr in die Theorie vertiefen möchte, ist herzlich eingeladen, die am Seitenrand und im Index ausgeführten Begriffe in der Fachliteratur nachzuschlagen.
Die zu Beginn jedes Kapitels – Klassenführung, Wissenserwerb, Motivation, Metakognition und Selbststeuerung, Verstehen und Anwenden – etwas salopp formulierten Fragen mögen für die Phase des Berufseinstiegs besonders kennzeichnend sein, beschäftigen aber auch erfahrene Lehrpersonen in der täglichen Arbeit immer wieder. Insofern richtet sich das Buch nicht ausschließlich an Berufseinsteigende, sondern an alle an Unterricht interessierten Personen. Es soll dazu beitragen, den berüchtigten Theorie-Praxis-Graben weiter zuzuschütten oder, noch besser, ihn gar nicht erst entstehen zu lassen.
Zürich, im Herbst 2019
Marcel Naas
Nico Sommer macht sich auf den Weg zur Schule. Im August hat er in seiner ersten Anstellung als Sekundarschullehrer eine siebte Klasse übernommen. Der Start glückte ihm nicht besonders. Vieles, was ihm in der Ausbildung völlig plausibel und klar vermittelt worden war, wollte in der Praxis nicht so richtig funktionieren. Für praktische Probleme fand Nico oft keine Lösung, weil ihm die passende Theorie fehlte. Oder mangelte es einfach nur an Erfahrung? Damit trösteten ihn seine Teamkolleginnen und -kollegen. «Das wird schon. Am Anfang ging es mir wie dir.»
Nico genügte das nicht. An der Pädagogischen Hochschule war mantramäßig wiederholt worden, die Theorie sei zur Reflexion der Praxis unerlässlich, genauso wie die Praxis als Handlungsfeld der Theorie eminent wichtig sei. Das verhindere, dass sich ein Theorie-Praxis-Graben auftue. Erfahrung sei wertvoll, allerdings umso mehr, wenn sie mit theoretischen Kenntnissen verknüpft werden könne. Nico glaubte an die Wichtigkeit der Theorie – bis er als Klassenlehrer die erste Sekundarklasse übernahm und vom Berufsalltag so absorbiert wurde, dass für die Reflexion keine Zeit mehr blieb. Es war ihm, als würde er in einem Ruderboot im Sturm auf dem Meer treiben, bald von der einen, bald von der anderen Welle erfasst, und so sehr er auch ruderte, gelang es ihm kaum mehr, das Boot in die gewünschte Richtung zu steuern. So konnte es nicht weitergehen. Das beschloss Nico in den Herbstferien nach drei Tagen im Bett, als er realisierte, dass ihn nicht nur die Grippe so geschwächt hatte.
Nico verlangsamt seine Schritte. Noch um diese Kurve, dann steht er vor dem Schulhaus. Er fühlt sich unbehaglich.
Was ist los mit mir? Habe ich etwa Angst? Und wovor genau? Ich bin doch gerne Lehrer, oder nicht?
Er legt die Stirn in Falten und schluckt leer. In einer halben Stunde beginnt die erste Lektion nach den Herbstferien. Nico spürt, wie sich sein Puls beschleunigt.
Ich kenne das Gefühl. Es ist die übliche Unsicherheit, die ich vor jedem Praktikum oder nach den Sommerferien auch gespürt habe. Nehmen die mich ernst? Kann ich mich durchsetzen? Kann ich in meiner Rolle als Lehrperson genügen?
Vor einem Fenster der Turnhalle bleibt Nico stehen und betrachtet sein Spiegelbild. Er richtet sich auf und strafft die Schultern. Ihm blickt ein junger Mann entgegen, 24-jährig, sportlich und recht gut aussehend, wie er findet. Aber sieht er in ihm auch einen Lehrer?
Reiß dich zusammen. Du kannst das.
Kein Zweifel: Nico war ein interessierter Student gewesen. Wie die meisten anderen war er zwar auch an die Pädagogische Hochschule gegangen, um eine Berufsausbildung zu absolvieren, aber es war ihm immer klar gewesen, dass es hierfür eine erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Basis braucht. Deshalb hatte er nach der Abschlussfeier die Studienbücher nicht zum Altpapier gelegt, und auch die elektronischen Dokumente auf seinem Laptop hatte er behalten.
Als Nico in den Herbstferien über die ersten zwei Monate seiner Schulpraxis als Klassenlehrperson nachdachte, kam er zum Schluss, dass ein Blick in Theoriebücher hilfreich sein könnte, um nach den Ferien gewisse Dinge zu ändern. Sobald er wieder gesund genug war, begann er deshalb nicht sofort mit der konkreten Unterrichtsvorbereitung. Stattdessen vertiefte er sich in sein dickes Lehrbuch der Pädagogischen Psychologie, um Antworten auf seine Fragen aus der Schulpraxis zu erhalten.
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