Das Produzieren bzw. Rezipieren geschieht nicht mehr in zwei Welten, sondern wird nun oftmals verknüpft und befruchtet sich gegenseitig. Auch dies darf wohl als Entwicklungsschritt der letzten 40 Jahre angesehen werden: Dass sich Pädagogik und Theater angenähert und ihre Berührungsängste abgebaut haben. Dass also eine einstmals auf erzieherische Absichten, auf Gruppenprozesse und Persönlichkeitsentwicklung angelegte Theaterpädagogik sich der Ästhetik der Kunst angenähert hat. Umgekehrt sind Schulen und Kinder und Jugendliche ein ernstzunehmendes und spannendes Publikum geworden, das durchaus etwas zu sagen hat und fähig ist, auch mit komplexeren Inhalten umzugehen und selbst imstande ist, theatrale Produkte zu kreieren, die inspiriert und ästhetisch ansprechend sind.
Dabei hat sich der Begriff der Theaterpädagogik nicht nur gefestigt, er hat sich auch verändert: Während zu Beginn als Folge der 68er-Jahre der emanzipatorische Gedanke im Zentrum stand, so geht es heute, nach einer Phase der Fokussierung auf die Persönlichkeitsentwicklung, auf das biografisch Einmalige und Unverwechselbare, mehr um die ästhetische Bildung und die Auftrittskompetenz.
In diesem Sinne liesse sich also sagen: Die heutige Theaterpädagogik sucht in der Formensprache und der Formenvielfalt des zeitgenössischen Theaters. Sie will Theater als offene Form der Darstellung schaffen, ist sich aber der Prozesshaftigkeit bewusst. Sie sucht deshalb auch auf dem Weg der Produktentwicklung die Auseinandersetzung der Beteiligten mit sich selbst, mit den andern und mit der Welt, in der sie alle leben. Persönliche und soziale Prozesse sind zwar nicht mehr zentrales Anliegen, aber als ‹positive Nebenwirkung› und Erfahrung durchaus willkommen. Die heutige Theaterpädagogik geht damit um und darauf ein. Theater ist Mittel und Thematik, ist Form und Sache.
In der Verknüpfung von Rezeption und eigenem Spiel, von Spielprozessen und Theaterprodukten, im Umfassenden von Theater überhaupt geht es letztlich um die Förderung der Wahrnehmung: Theater ist wohl eines der besten Mittel, sich mit Gehörtem, Gefühltem, Empfundenem und Gesehenem auseinanderzusetzen, sei es als Zuschauer/Zuschauerin oder als Spieler/Spielerin. Immer ist es die Auseinandersetzung mit dem konkreten Beispiel, das auffordert, mit allen Sinnen wahrzunehmen und Stellung zu beziehen gegenüber jener Welt, in der man lebt.
1.4 ZUR ENTWICKLUNG DER THEATERPÄDAGOGIK SEIT DEN 1970ER-JAHREN
Wie oben ausgeführt ist die Geschichte der Theaterpädagogik keine linear verlaufende. Es gibt etliche Fäden, aus denen sich jenes Gebilde entwickelt hat, das heute unter dem Begriff Theaterpädagogik existiert.
Der Begriff selbst kam Ende der 1960er/Anfang der 1970er-Jahre im deutschsprachigen Raum auf und ist auch heute noch ein sprachliches Unikat geblieben: Während im französischen Sprachraum von ‹Jeux dramatique› und in Italien von ‹Teatro Educazione› gesprochen wird, heisst es in England ‹Theatre for Developement›, ‹Theatre in Education› oder ‹Drama in Education›. Entsprechend schwierig ist auch die Übersetzung des Berufes: Der Theaterpädagoge ist im englischsprachigen Raum ein ‹Drama-Teacher› und in Frankreich ein ‹Animateur›, was aber die Sache nur ungenau trifft und auch deutlich macht, dass die Berufsvorstellungen je nach kulturellem Hintergrund unterschiedlich sind (Streisand (2010), S. 5).
Die eine Wurzel ist also eine relativ junge und hat ihren Ursprung im deutschsprachigen Raum. Als Folge der 1968er-Jahre, des damit verbundenen ‹Dursts› nach Freiheit und Unabhängigkeit und der Abkehr von allem Bürgerlich-Verknorztem verliessen etliche Schauspielerinnen und Schauspieler die damals verkrusteten und erstarrten Stadtund Staatstheater, schlossen sich in freien Gruppen zusammen oder gründeten die ersten professionellen Kinder- und Jugendtheatergruppen. Diesen ging es mit ihren Stücken für Kinder und Jugendliche in erster Linie um die Emanzipation der nachwachsenden Generation, um politische Bildung also. Es sollte aufgeklärt werden mit dem Ziel, sich von der Fuchtel der konservativen Obrigkeit zu befreien. Es ging um erzieherische Freiheit, um sexuelle Befreiung, um Absage an Kapitalismus und Biederkeit, es ging um die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Strukturen, und dieser ‹Kampf› konnte nicht früh genug beginnen. Der Versuch also, die Macht im Staate zu untergraben, das starre Gefüge zu unterhöhlen, Menschen – und auch Kinder – zu selbstständig denkenden und unabhängig handelnden Personen zu emanzipieren. Der Traum einer freien Gesellschaft: ‹Das hälste ja im Kopf nicht aus›, ‹Was heisst hier Liebe?›, ‹Mensch ich lieb dich doch›, ‹Darüber spricht man nicht›, ‹Stifte haben Köpfe› u. a. waren Klassiker dieses emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters. Da und dort kam es zu Tumulten und erbosten Elternreaktionen nach Schulaufführungen oder gar zu Aufführungsverboten an Schulen.
«Aus den Städten, in die Dörfer!»
Als Folge der 1968er-Jahre verliessen viele Schauspielerinnen und Schauspieler die etablierten Theater. Theater sollte gesellschaftlich und politisch relevanter sein, näher beim Volk. Mit diesem Anspruch wurden auch in der Schweiz die ersten Freien Gruppen gebildet, in den Dörfern und Kleinstädten wurden Keller geweisselt, Scheinwerfer montiert, es entstand ein Netz von Gastspielstätten und von Gruppen wie Claque! oder ‹Innerstadtbühne›. Auf dem Spielplan standen nebst Lehrstücken von Brecht zeitgenössische Autoren wie Kroetz, Handke, Strauss, Schneider, Mrozek u.v.a. Nicht mehr die grossen Helden waren Thema, vielmehr sollte die Situation des ‹Volkes›, der einfachen Leute, zur Sprache kommen. Das gesellschaftlich-soziale und das politische Umfeld standen im Fokus. Dabei wandelte sich auch die Sprache: Autoren schauten dem Volk auf Maul. Dialekte oder dialektal gefärbte Sprache hielt Einzug, die Sprachlosigkeit war Thema, das sprachliche Stolpern und Stottern, das Fluchen und Schweigen.
Parallel dazu forderten die Theaterschaffenden nicht nur Nähe zum Volk (Kunst für alle), gefordert wurde auch Nähe zu Schule und Schülern.
1973 fand so z. B. das 14. Aargauer Gespräch der Kultur-Stiftung Pro Argovia statt, «auf dem die grundlegend neue Bedeutung des Darstellenden Spiels an den Aargauer Schulen – aber nicht nur in diesem Kanton – mit Nachdruck ins Gespräch gebracht wurde. Der Präsident der Pro Argovia, Albert Hauser, formulierte damals die Aufgabe der Tagung so: «Der Imperativ dieser Tagung, das ist ein kategorischer Imperativ, der heisst, wann, wo, wie kann auch im Aargau Schultheater, gutes Schultheater, realisiert werden.» (Streisand u.a. (2007), S. 51 f.)
Aus dieser Tagung resultierte die Gründung einer Schultheaterkommission und einer Beratungsstelle, die noch heute aktiv ist. Theaterleute wie Jean Grädel und Peter Schweiger waren in dieser eigentlichen Geburtsstunde dabei und massgeblich an der Ausgestaltung der ersten Grundkonzepte für eine Theaterpädagogik in der Schule mitverantwortlich (vgl. Streisand (2007), S. 53). Umgekehrt beeinflussten theaterpädagogische Arbeitsansätze auch die Stadttheater: Regisseure wie Marthaler oder Häusermann hatten vor ihren ‹Stadttheaterkarrieren› oft mit Laienspielern oder Laien-Profi-Gruppen gearbeitet und dort Improvisationstechniken und kollektive Stückentwicklungen erforscht und erprobt. Auch Gruppen wie ‹Rimini-Protokoll› entwickeln ihre Konzepte mit theaterpädagogischem Hintergrund bzw. machen theaterpädagogische Arbeitsformen zu ihrem eigentlichen Markenzeichen.
Im Umfeld dieser Theaterarbeit wurde auch mit Jugendlichen und Kindern in Freizeitzentren und Quartieraktionen Theater erarbeitet und wurden Inszenierungen entwickelt, meist mit klar politisch-emanzipatorischer Absicht (Weintz (2008), S. 279 ff.). Es ging um neue, offenere Formen der Kommunikation, es ging um selbstgesteuertes Lernen, um Autonomie, um interaktives Geschehen, um Entwicklung im Kollektiv. «Neben der neuen freien Theaterszene, die sicherlich grossen Einfluss auf die Lust am Theater heute hat, ist aber das Bedürfnis von Pädagogen, Psychologen und andern in helfenden Berufen Tätigen nicht zu vergessen; ihr Ziel ist es, ganzheitliche Selbsterfahrung, kreative Gruppenarbeit und politische Bildung zu verknüpfen.» (Ehlert (1986), S. 11, vgl. auch Lenakakis (2004), S. 40 f. und Weintz (2008), S. 279)
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