„Was war eigentlich die Ursache? Haben Sie da etwas Genaueres gehört?“
„Nein. Sowohl der Kapitän wie auch der Kleiderständer von Ferretti beteuerten, sie hätten keinen Schimmer. Eigentlich hätte der Hubschrauber den Eigner nach der Schiffstaufe zum Flughafen nach Rijeka bringen sollen, doch dann sei ein Anruf gekommen und der überstürzte Abflug. Eine Schiffstaufe ohne Eigner! Meines Wissens ein noch nie da gewesener Fall. Wenn das nur kein schlechtes Omen ist …“
Noch ein Omen gab es an diesem Tag, das für Doktor Schaden Anlass genug war, sich Gedanken zu machen. Nachdem die Feierlichkeit am Hafen vorbei war, die Ehrengäste ihre Koffer gepackt hatten und sich abreisen ließen, hatte ihn der Hoteldirektor, ein watschelnder Pinguin, zur Seite genommen:
„Da wäre dann noch die Rechnung, Herr Doktor Schaden“, sagte er mit diskretem Hüsteln und präsentierte auf einem Silbertablett einen Stapel Kassenzettel mit einem hochnoblen Blatt aus Büttenpapier obendrauf.
Der Banker war bemüht, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. „Sollte das nicht der Sekretär des Herrn Konsul in Ordnung bringen?“, fragte er mehr sich selbst als den Pinguin.
Der fühlte sich aber angesprochen und meinte: „Von der Entourage des Herrn Konsul ward niemand mehr gesehen.“
Doktor Schaden schärfte sich auf die Summen des Büttenpapiers ein. Mehrere „Subtotals“ waren aufgelistet. Da hieß es etwa: Logis inkl. Frühstück € 9.600, Zimmerservice in den Suiten € 3.280, Blumenschmuck der Suiten € 1.280, Empfangscocktail für alle € 2.612, Restaurant individuell € 6.060, Büffet am Hafen, Speisen € 8.412, Büffet am Hafen, Getränke € 6.180, Fremdkosten Mietautos € 4.800, Geschenk für die Taufpatin € 5.000. Darunter stand, Doktor Schaden nahm seine Brille zu Hilfe: „Total € 47.224“.
Es wurde ihm schlagartig klar, dass er gar nicht das Pouvoir hatte, für solche Summen im Namen der Bank zu unterschreiben. Um sich eine Denkpause zu verschaffen, fragte er nach der Bewandtnis mit dem Geschenk für die Taufpatin.
„Der Sekretär des Konsuls hat uns Anweisung gegeben“ – leichtes Naserümpfen – „der Dame 5.000 Euro in bar auszuzahlen. Ein Wunsch, den wir ihm selbstverständlich erfüllt haben.“ Ein bisschen viel für die „Dame“, doch unmöglich konnte er die Peinlichkeit durch Verweigerung der Unterschrift zur Blamage steigern. Er nahm mit einem „Selbstverständlich“ den Griffel, den der Pinguin neben dem Konvolut aus Kassenzetteln auf dem Tablett platziert hatte, und unterschrieb. Hoffentlich im Sinne seines Generaldirektors, der schon abgereist war.
Der Hotelpinguin hatte das Silbertablett inzwischen irgendwie weggezaubert, sodass Doktor Schaden den Griffel nicht einfach darauf ablegen konnte, sondern ihn überreichen musste. So kam es zu einem Blickkontakt. Von wegen Blickkontakt. Der Hotelpinguin fixierte ihn und hatte plötzlich etwas unendlich Trauriges in seinen Augen. Etwa so, als ob er sich in die Hose gemacht hätte.
„Ach so, das Trinkgeld.“
Doch was gab man in einer solchen Situation? 32 Gäste, 18 Suiten, 18 Zimmermädchen, das Büffetpersonal, die Chauffeure der Mietwägen. Er tendierte zu 1000 Euro, erinnerte sich, dass Italiener im Umgang mit Trinkgeld eher knausrig sind, und überreichte einen Fünfhunderter. „Für die Angestellten.“
Der Pinguin ließ die Banknote verschwinden wie ein guttrainierter Taschendieb das Corpus Delicti und watschelte in Richtung Tür mit der Aufschrift „Service only“.
All das ließ Doktor Schaden Revue passieren, als er jetzt auf der Autobahn in Richtung Villach abbog. Die nicht ganz geglückte Schiffstaufe mit einer Dame des Horizontalen als Taufpatin und die Hotelrechnung, die er für die Bank wohl oder übel übernehmen musste, was hatte das wohl zu bedeuten?
Tags darauf saß Doktor Schaden mit zwei Kolleginnen in Klagenfurts Moser Verdino, um einen Happen zu essen. Die beiden warteten mit Details aus dem Kontrollbericht der Wiener Finanzmarktsaufsicht auf. Es sei alles paletti, beruhigte Schaden.
„Solange das Land dafür haftet, gibt es für die Bank kein Problem. So sieht es auch Wien.“
„Was aber, wenn irgendwann einmal die Haftung schlagend werden sollte, wenn das Land für all die Milliarden geradestehen muss?“, fragte einer.
„Dass dies nur das theoretische Konstrukt sein kann, ist die Erkenntnis unseres Generaldirektors, der Kärntner Landesregierung, des Landtages und der Wiener. Schalten Sie ab, Herr Kollege“, setzte Schaden nach, zahlte seine Brote und das Mineralwasser und ging zurück an seinen Arbeitsplatz in der Bank. „Fort Knox“ nannten sie die Kollegen am Stammtisch in den Wirtschaften, damit umstehende Gäste nicht gleich wussten, wovon die Rede war. „Fort Krux“ hatte er daraus im Gespräch mit seiner Frau gemacht.
Carlo hatte kein Problem, die Adresse der Fischhandlung im Zentrum Klagenfurts zu finden. Wie jeden Donnerstag lenkte er seinen Kühltransporter in das Stadtzentrum. Er hatte Glück. In akzeptabler Distanz zur Zustelladresse machte er eine Parklücke aus und stellte den Motor ab. Zwar ragte der Ladeteil des Lasters der Fischerei-COOP Grado ein wenig in die Querstraße hinein, doch es gab keine LKW-taugliche Parklücke weit und breit. Und aus langjähriger Erfahrung im Umgang mit österreichischen Polizisten wusste Carlo, die ließen mit sich reden. Sie hatten einen Ermessensspielraum. Bat man einen von ihnen höflich „Due minuti, per favore. Ich gleich fahren weg“, dann kam es nicht selten vor, dass sie nicht nur ein Okay nickten, sondern sogar die Ladeluke zum Kühlabteil schlossen, weil man beide Hände beladen hatte. Carlo wusste diese Ermessensspielräume für die unteren Ränge der Exekutive durchaus zu schätzen. Er hatte nicht immer tote Fische herumgefahren, sondern war früher mal als Chauffeur verschiedener Regionalpolitiker in ganz Europa herumgekommen. Diese hatten durchwegs die Angewohnheit gehabt, sich den Zielen ihrer Sehnsucht per Flugzeug zu nähern und ihn mit Dienstwagen vorauszuschicken. So konnten sie sich vor Ort von ihm herumkutschieren lassen und er konnte nicht nur gratis, sondern auch noch bei guter Bezahlung den Kontinent kennenlernen. Denn selbstverständlich tarnten die Politiker ihre Exkursionen als Dienstreisen. Bei einer dieser Fahrten hatte er den Unterschied zwischen Ermessensspielraum ja und Ermessensspielraum nein zu spüren bekommen. Das war in London gewesen. Er wollte in einer Quergasse zur Londoner Oxford Street nur ganz kurz auf einer gelben Doppellinie parken und bat einen Bobby um Erlaubnis. Den armen Officer traf fast der Schlag. „Wollen Sie mich zum Komplizen einer Straftat machen?“, hatte er fassungslos aus sich herausgepresst und mit herrischem Wink bedeutet, den Tatort schleunigst zu verlassen. In einem Pub erfuhr Carlo wenig später, dass der Bobby für das erbetene Entgegenkommen gar eine unehrenhafte Entlassung aus dem Dienst bei der Londoner Metropolitan Police Force hätte erleben können. In Österreich sah man das, gottlob, anders.
Doch dass der Klagenfurter Polizist, der sich jetzt ihm näherte, von seinem Ermessensspielraum bei Parkraumnot keinen Gebrauch machen würde, erkannte Carlo schon an dessen Haltung. Der Uniformierte stapfte mit seitlich ausholenden Schritten daher, massiv übergewichtig, die Wangen cholesterinrot, einem Krokodil in aufrechtem Gang nicht unähnlich. Da er keine Wahl hatte, beschloss Carlo, das gefährliche Wesen zu ignorieren. Er öffnete die Ladetür zum Tiefkühlabteil seines Lasters und versteinerte augenblicklich. Vor ihm hing eine Frau, die mit schreckensgeweiteten Augen durch einen milchigen Eisflaum um das Gesicht auf ihn herabblickte. Entgeistert nahm Carlo völlig Nebensächliches wahr. Etwa, dass die schwarzen Stöckelschuhe an den zierlichen Füßen der Frau sofort mit einer Eisschicht beschlugen. Und dass ihre linke Hand hässlich verfärbt war von gefrorenem Blut. Bevor Carlo das, was er sah, verarbeiten konnte, schlug eine kräftige Hand die Luke vor seiner Nase zu.
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