Um Verkehrskontrollen brauchte sich Hannelore hier nicht zu kümmern. Ihr Hotel war gleich hinterm Strand. Das Einzige, was bei diesem Bad störte, war der Sand. Die Strandduschen waren ja im März noch nicht in Betrieb. Und Sand in der Hose, zwischen den Beinen, zwischen den Zehen, war für Lore ein „Igitt“. Da aber alle dem Vorschlag gefolgt waren, die neue Badesaison zu eröffnen, wollte sie nicht ausscheren. Zumal sie am Nachmittag ohnehin schon blöde Sprüche hatte hören müssen, weil sie sich nach dem fünften oder sechsten Prosecco weigerte, weiterhin Alkoholisches in sich hineinzuschütten.
Endlich hatte sie eine Tiefe erreicht, die es ihr ermöglichte, abzutauchen. Sie hielt dabei wie immer die Augen offen. Die Blindheit geschlossener Augen unter Wasser fand sie irgendwie beängstigend. Zu sehen indes gab es hier wenig. Etwas Graszeugs und Wolken von Sandkörnern, die in den Gezeiten schaukelten. Einer der Gruppe musste sie überholt haben. In der trüben Suppe nahm sie nur einen Schatten wahr und eine leichte Berührung. Sie tauchte auf und spürte eine Last auf ihrem Scheitel. Sie schüttelte ihren Kopf in hysterischen Linksrechtsdrehungen, worauf eine fremde Hand auf ihre Schulter patschte. Sie gehörte zum aufgequollenen Gesicht eines Mannes, der sie mit dem Blick eines toten Fisches anstarrte. Hannelore wollte schreien, verschluckte sich und konnte nur wild um sich schlagen.
Die Spaziergänger auf der Flaniermeile waren inzwischen von Nachrückenden abgelöst worden. Einer von ihnen erklärte seiner Frau die Leuchtfeuer der Hafeneinfahrt, deren Blinken man in der Abenddämmerung bereits deutlich erkennen konnte. Plötzlich rannte er los in Richtung Wasser und rief den Schwimmern zu, zu helfen. Sein Tonfall und seine Gesten ließen keinen Zweifel am Ernst der Lage. Eine Passantin hob ihr Fernglas. Sie sah die junge Frau draußen im Meer. Neben ihr schwappte irgendein Bündel mit dem Gang der Wellen auf und nieder.
„Da ist Treibgut“, sagte sie zu sich selbst. Und dann: „Ein Ertrunkener.“
Commissario Bruno Vossi saß auf seiner Terrasse auf dem Hügel über Gorizia und las Texte, die er aus dem Internet herausgesucht hatte. Für den Sommer hatte er eine Kulturreise durch Deutschland angesagt. Er wollte mehr erfahren über die Zeit der historischen Einheit der deutschen Länder mit Italien unter Ottonen und Staufern. Er interessierte sich für Geschichte so wie andere für Inter Mailand, den FC Roma oder Juventus Turin. Jetzt las er: „Otto I., ostfränkischer König, heiratete Adelheid von Burgund 951 in der lombardischen Königsstadt Pavia und übernahm die langobardisch-italienische Königswürde …“
Vossi nahm seine Reisenotizen zur Hand und schrieb. „1. Stopp, Pavia, Dom.“
Da meldete sich sein Assistent Roberto Vialli und keuchte ins Telefonino: „Wir haben einen Toten am Strand von Grado. Könnte Opfer eines Verbrechens sein, sagt der Forensiker.“
„Gut, hol mich ab.“
Die beiden ernteten böse Blicke der Spaziergänger, weil sie das Fahrverbot auf dem Uferweg missachteten. Ein Absperrposten der Polizia winkte sie durch einen Ring Neugieriger, dann sahen Vossi und Roberto die Bescherung. Im Sand lag die Leiche eines jungen Mannes, irgendwo zwischen ausgezehrt und halb verhungert, mit zerfetztem Unterleib. Offensichtlich hatte ihn eine Schiffsschraube aufgerissen, als er im Wasser trieb. Auffällig die extreme Hagerkeit des Toten. Drogensucht?
Dottore Stefano Lamberti von der Forensik, für Bruno Vossi aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft aus Istrien stets nur Stipe, slowenisch für Stefan, nahm seine Brille ab und begrüßte den Commissario: „Trieb wohl schon seit Tagen im Wasser. Vielleicht beim Schwimmen ertrunken.“
Vossi schüttelte sich: „Schwimmen, jetzt? Zu dieser Jahreszeit? Und in Jacke und Hose?“
„Warum nicht. Vielleicht ein Tourist, der volltrunken das Nasse suchte, um wieder klar zu werden.“
„Stipe, ich bitte dich!“
„Oder vom Boot gefallen.“
„Wie ein Seemann oder Freizeitkapitän ist er aber nicht gekleidet. Also müssten andere an Bord gewesen sein, die Alarm geschlagen hätten.“
„Vielleicht von einer Fähre.“
„Vielleicht. Warten wir’s ab. Fremdeinwirkung?“
„Nicht vor morgen früh, Bruno.“
„Und bitte schau nach, ob du Einstiche siehst. Er schaut mir aus, als ob er zuletzt nur von Drogen gelebt hätte.“
„Willst du mir meinen Job beibringen?“
„Stipe, du weißt, dass es so nicht gemeint war. Mich schüttelt es nur immer aufs Neue, wenn ich einen Suchtl im Endstadium sehe.“
Zwei Stunden später, Vossi war schon wieder zu Hause beim Abendessen, meldete sich Alberto Bettini, der Chef der Spurensicherung. Er teilte mit, dass der Tote nichts in den Taschen gehabt hatte.
„Wie viel ist nichts, Alberto?“
„Nichts bedeutet so viel wie gar nichts, absolut nichts, totale Fehlanzeige.“
„Das ist aber komisch. Denk mal nach, Alberto, wie oft hast du nichts, also absolut gar nichts in deinem Hosenbund und deinen Rocktaschen?“
„Das kann schon vorkommen, denn meist bin ich pleite. So long, Bruno.“
Und Alberto hatte aufgelegt. Noch wusste Vossi nicht viel, eigentlich gar nichts, aber er war sich sicher: Es handelte sich um Mord.
„Erwürgt“, triumphierte Dottor Lamberti am nächsten Morgen.
„Ich wundere mich immer, welche Freude dir so eine menschliche Tragik machen kann“, brummte Vossi.
„Ich freue mich nicht über das Schicksal des Opfers, Bruno, sondern darüber, dass ich dich auf Trab halten kann. Du vergräbst dich sonst zu sehr in deinen Geschichtsbüchern. Wie weit bist du denn?“
„Deutsches Mittelalter“, antwortete Vossi ungewollt.
„Na, da hast du ja noch eine schöne Strecke bis zur Gegenwart. Gratuliere.“
„Stipe, zur Sache bitte.“
„Ja, da haben wir etwas ganz Besonderes, mein lieber Bruno. Erwürgt, aber nicht einfach so. Nein, mein Lieber. Die Würgespur war so dünn, dass wir sie gestern im Dämmerlicht am Strand nicht gleich bemerkten. Zum Glück aber wiederum so tief, dass die ganze Zeit kleinste Fasern haften blieben.“
Lamberti zeigte auf einen tiefen Ring um den Hals des Toten. Es hätte eine Hautfalte sein können, wäre er nicht so unnatürlich gerade verlaufen.
„Wie ein Schnitt.“
„Ja, wie ein Schnitt und absolut clean.“
„Warum ist er dann so hager?“
„Vielleicht ein Albaner. Doch nun zu etwas ganz Besonderem: Die Fasern von der Würgeschlinge sind reine Seide, alles hundert Prozent organisch, wie du und ich. Äußerst ungewöhnliches Material für ein Mordwerkzeug.“
„Ja und nein“, hielt Vossi dagegen.
„Wieso, was weißt du, was ich nicht weiß?“
„Die Osmanen exekutierten ihre glücklosen Heerführer und hochgestellte Persönlichkeiten mit reiner Seide. Kara Mustapha zum Beispiel. Der erfolglose Belagerer Wiens wurde für seine Niederlage vor den Stadtmauern mit einer Seidenschnur stranguliert. Was den Osmanen allerdings nicht genug war: Dem Glücklosen wurde nach der Exekution auch noch der Kopf abgetrennt, in eine Schatulle gepackt und dem Sultan am Bosporus präsentiert. Ob zum Beweis der Vollstreckung oder zur Genugtuung des Sultans, darüber streiten die Gelehrten.“
„Wann war das?“, wollte Dottor Lamberti wissen.
„Das Erwürgen im Dezember 1683, die Niederlage in der Schlacht um Wien im September davor.“
„17. Jahrhundert also. Ich dachte, du bist in Geschichte erst beim Mittelalter?“
„Ob dem Toten hier auch der Kopf abgetrennt werden sollte, zur Genugtuung eines sehr mächtigen Auftraggebers vielleicht?“
„Du wirst es nie erfahren, Bruno. Ich sage dir, wir haben es mit einem Verbrechen zu tun, das irgendwo da draußen auf See passiert ist, womöglich in internationalen Gewässern, vielleicht vor der Küste Sloweniens, Kroatiens, Korfus oder des Veneto. Jedenfalls außerhalb deines Bereichs. Leg ihn ab in deinem Aktenfriedhof der Namenlosen und vergiss.“
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