Der Hund rührt sich nicht.
Mascha steht neben dem Vater und sieht, wie sein Gesicht auf einmal rot anläuft.
»Aber dalli, mein Freundchen. Ich sage es ein letztes Mal.«
Sein Tonfall ist angespannt. Mit dem rechten Arm greift er unter das Sofa und tastet mit der Hand nach dem Hund. Mascha hört das Trippeln der Hundepfoten, die hin und her laufen, um der Hand auszuweichen. Der Vater richtet sich mit zornigem Blick wieder auf und zieht die Stirn kraus. Plötzlich greift er nach seinem zweiten Hauslatschen. Dann bückt er sich so tief, bis er unter das Sofa sehen und die Position des Hundes prüfen kann. Er pfeffert den Schuh mit Schwung auf den Hund, und Tinkapur jault in einem hohen Schmerzlaut laut auf. Mascha zuckt zusammen. Mit panischem Blick rennt Tinkapur aus ihrer Deckung hervor und bringt sich zwischen Maschas Beinen in Sicherheit. Ihre Ohren liegen eng an, und ihr ganzer Körper ist zusammengeduckt.
»Siehst du, so erzieht man einen Hund, der nicht hören will. Und jetzt raus!«
Werners Laune ist nun restlos verdorben. Nicht einmal das Kind und der Hund haben Respekt vor seinen Bedürfnissen. Gerade heute empfindet er das als besonders frustrierend, denn er hat bereits einen schwarzen Tag hinter sich.
Wie immer hatte er am Morgen eine Gruppe Sportstudenten im Kraftsport trainiert. Bisher hatte er sich bei den jungen Männern gut mit seiner Unnahbarkeit durchgesetzt. Heute jedoch war etwas geschehen, was ihn an ihrem Respekt zweifeln ließ.
Jeder wusste, dass er keinen Alkohol trank und Menschen verachtete, die es taten. Schließlich verkündete er seine Ansicht dazu bei jeder Gelegenheit: »Wer Alkohol oder Zigaretten braucht und seinen Körper vernachlässigt, hat keine Disziplin. Das sind Menschen ohne Willen.« Er empfindet es als angemessen, bewundert zu werden, weil er nicht so ein Schlappschwanz ist.
Heute Morgen nun hatte er während des Trainings aus seiner Saftflasche trinken wollen, und der Geschmack von Bier war in seinen Mund gelaufen. Angewidert hatte er es auf den Boden gespuckt und sich schockiert umgesehen. Die Studenten hatten ihn grinsend und mit offenem Hohn beobachtet.
Fast tonlos hatte er hervorgepresst: »Wer war das?!« Niemand hatte ihm geantwortet. Er hatte mit Strafen bis hin zur Exmatrikulation gedroht, doch das hochmütige Grinsen auf den Gesichtern einiger Studenten war geblieben.
Und dann noch die widersinnige Reaktion seiner Frau, als er ihr zu Hause davon berichtet hatte. »Aber Werner, das war doch nur ein dummer Jungenstreich. Was regst du dich denn so auf?« »Dumm! Ja! Saudumm! Das ist zutreffend!«, hatte er wütend zurückgegeben und war hinter ein Buch auf das Sofa geflüchtet.
Hundert Ideen gehen ihm seitdem durch den Kopf, wie er sein Ansehen wiederherstellen könnte. Und dann noch dieser kleine Köter, der offenbar denkt, er kann machen, was er will .
Genervt atmet er laut aus.
Musste er denn immer erst auf den Tisch hauen, damit die anderen wussten, wie sie sich zu benehmen hatten?
Mascha sitzt am Küchentisch und hat den Kopf in die Hände gestützt. Ihre Mutter rührt Fertigpudding an. »Das ist eine tolle Sache, dass hier alles schon komplett ist«, sagt sie begeistert, als sie das Pulver mit der Milch vermengt.
Sie würzt nicht gern. Die unterschiedlichen Varianten, die bei der Zubereitung mit Gewürzen möglich waren, ängstigten sie. Niemand hatte ihr gezeigt, wie man solche Dinge ausprobiert. Ihrem Mann reichten Pfeffer und Salz, und seine genauen Vorstellungen vom Essen erleichtern sie. Sie waren gleichbleibend und änderten sich nicht. Obst und Gemüse, Vollkornbrot ohne Butter oder Margarine, magere Wurst, geschabtes Rindfleisch mit rohem Ei, Magerpudding, Magermilch, magerer Käse, Kartoffeln, Ei, Steak – nichts Kompliziertes also.
Sie liebt Vorgaben, an die sie sich halten kann. Überraschungen und Neues erfüllen sie eher mit Schrecken. Sie könnte dann Fehler machen und Ablehnung erfahren. Durch die strikte, gesunde Ernährung erlebt sie außerdem, wie Menschen sich im Freibad nach ihr und Werner umdrehen und ihre schlanken, durchtrainierten Körper bewundern.
Das gibt ihr bis zum nächsten Tag ein wenig Selbstvertrauen, und ihre innere Unruhe legt sich etwas.
Werner weiß nichts von ihren gelegentlichen Anfällen, in denen sie eine unbändige Lust auf Kuchen hat. Um sich nicht so schuldig zu fühlen, lässt sie Mascha daran teilhaben. Sie kauft dann einen Familienkuchen und isst ihn zusammen mit dem Kind am Küchenfenster, um Werners Heimkehr nicht zu verpassen. Mascha bringt die leere Folie in den Hof und wirft sie in die Mülltonne, damit Werner die Verpackung nicht findet. Sie sind ein eingespieltes Team bei dieser Übertretung der Essensregeln.
Oft jedoch springt ihr kurze Zeit später die Angst in den Nacken. Sie könnte zunehmen, und Werner würde es auf der Waage sehen. Dann zieht sie sich die Sportsachen an und läuft durch den Wald. Das Kind fährt mit dem Fahrrad nebenher, und zusammen gleichen sie die Tat wieder aus.
Der Pudding schlägt Blasen, und sie nimmt ihn vom Herd.
»Mama, darf ich bitte in eine Hundeschule gehen? Ich kann es javon meinem Taschengeld bezahlen.«
Die Mutter dreht sich zu dem Mädchen um und blickt es nachdenklich an. Vielleicht ist es doch keine so schlechte Idee. Sie müsste Werner nicht mit der Hundeerziehung belästigen, und das Kind wäre beschäftigt und hätte Spaß. »Ich rede heute Abend mit Papa darüber!«, sagt sie mit zuversichtlicher Stimme.
Mascha springt vom Tisch auf und umarmt die Mutter. Sie blickt auf den Hund, der zu ihren Füßen schläft, und denkt erleichtert: Jetzt wird alles gut, Tinkapur! Ich kann dich wieder ganz liebhaben, wenn ich keine Angst mehr haben muss, was du tust .
Die Hundeschule liegt am Stadtrand in einem Waldstück. Vielfaches Hundegebell ist von weitem zu hören. Tinkapur reagiert darauf mit ohrenbetäubendem Gebell.
Mascha sieht bang zu ihrer Mutter. Die starrt überrascht auf den Hund und blickt sich dann peinlich berührt nach allen Seiten um. Sie nimmt Mascha die Leine aus der Hand und reißt den Hund zurück. »Hörst du auf! Still! Ruhe! Was soll denn das?!«
Tinkapurs Ohren wenden sich kurz nach hinten, doch an der Lautstärke ändert sich nichts. »Hörst du jetzt!? Was ist denn los? Aus!«, schreit die Mutter aufgebracht und sieht Mascha mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mascha senkt betreten den Blick. Sie hat der Mutter verschwiegen, dass in den letzten Wochen alle Hundebegegnungen so verlaufen waren. Sie wusste, wie schnell die Mutter sich aufregte und was für Folgen es haben konnte, ihr Dinge mitzuteilen, die sie beunruhigten und ängstigten. Sie will den Hund auf jeden Fall behalten. »Mama, die Hundeschule wird uns helfen. Ich verspreche dir, dass ich gut lernen werde, und Tinkapur auch!«
Die Mutter verzieht ungehalten das Gesicht. »Du wirst auf keinen Fall Tinkapur sagen, sondern Tinka! Hast du das verstanden? Wir werden dort ohnehin schon Staub aufwirbeln, wenn Tinka sich so verhält.« Sie weist auf den bellenden Hund, der ruckartig in die Leine springt, um schneller voranzukommen.
Mascha spürt einen Stich im Herzen, schluckt aber die Widerrede hinunter. »Schau, da ist es.« Sie weist auf ein eingezäuntes Gelände, dem sie sich nähern. Auf einem Schild über dem Tor steht: Hundeschule Passion . Eine Frau sieht ihnen über den Zaun entgegen.
»Pfui, jetzt ist aber Ruhe«, presst die Mutter leise zwischen den Zähnen hervor. Mascha spürt die mühsam zurückgehaltene Wut der Mutter und zieht den Kopf zwischen die Schultern. Die Beobachterin am Zaun wird offenbar gerade angesprochen, denn sie wendet sich zustimmend nickend um. Die Mutter nutzt diesen Moment und bückt sich rasch zu dem Hund. Sie gibt ihm einen harten Klaps auf den Hintern. »Es reicht jetzt. Du blamierst mich hier vor allen.« Tinkapur jault überrascht auf und bellt ungebremst weiter.
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