Mit vier Jahren hatte Mascha dann vorgeschlagen: »Erklär mir doch die Buchstaben, dann kann ich selbst lesen.« So war es gekommen, dass sie mit nicht einmal fünf Jahren bereits lesen konnte. Das Schreiben war dann wie von allein dazugekommen. Ihr erstes eigenes Gedicht hatte sie vor drei Jahren mit Sieben im Ferienlager geschrieben. Es hatte von Heimweh gehandelt und von einem langen Regentag.
Mascha besinnt sich auf ihre Aufgabe. Ein Gedicht über ihren Lieblingsort also … Sie konzentriert sich, sieht mit offenen Augen in die Luft und wartet. Ein Bild taucht auf. Es ist ihr Lieblingsbaum, die Trauerweide. Und ein weiteres Bild, Tinkapur. OK. Aber ist ein Hund ein Ort, wenn man sich mit ihm wohlfühlt? Hm, sie darf sich nicht verzetteln. Ob sie einfach zwei Gedichte schreibt? Das ist eine super Idee, freut sie sich.
Gespannt stellt sie ihr inneres Radar auf Empfang. Sie nennt das so, seit sie einen Film über die Flugüberwachung am Flughafen gesehen hat. Das Radar sendet ein Signal aus und empfängt dann die Echosignale von allen Objekten, die in seinem Umkreis sind. Mascha fühlt sich auch so, wenn sie an ein Thema denkt. Sie konzentriert sich dann darauf und übt sich in Geduld. Irgendwann tauchen die Einfälle auf, und ihr kommt es oft so vor, als würden sie nur darauf warten, dass man sie einfängt.
Jetzt denkt sie fest an ihren Lieblingsbaum und schreibt den Titel ihres Verses: »Mein Lieblingsort, der Baum.« Dann wartet sie. Es ist nicht so ein Warten wie auf den Bus, denn sie weiß gar nicht, auf welche Worte sie wartet. Sie vertraut einfach darauf, dass etwas Passendes zu ihr kommt. Manchmal erscheint ein Wort, das richtig scheint, doch sein Klang liegt ihr beim Lesen wie ein Stein im Weg. Stolpert sie darüber, wartet sie auf ein anderes. Umgekehrt gibt es auch Worte mit einem schönen Klang, die leider nicht passen. Maschas Lieblingswort ist zum Beispiel »nimmermehr«, und sie würde es am liebsten in jedem zweiten Satz verwenden, weil sie es so gern sagt. Aber wie komisch würde es klingen zu fragen: »Hast du schon nimmermehr gefrühstückt?«
»Mein Lieblingsort, der Baum«, flüstert sie die Überschrift noch einmal leise vor sich hin und spürt, wie sich ein Einfall nähert. Sie erkennt es daran, dass sich in ihrer Umgebung die Luft zu verändern scheint, auch wenn sie das niemandem so erzählen würde. »Du hast ein Funkeln in der Krone … weil deine Blätter … sich regen …«, nein, besser »bewegen«. Noch bevor die nächsten Worte kommen, wird Mascha heiß, und sie weiß aus Erfahrung, dass dann ein Treffer bevorsteht, also etwas, was sie richtig mag: »Ich möchte so ein Funkeln sein!« Sie ist begeistert, auch wenn sie noch gar nicht weiß, wie es damit weitergeht. Hm, was macht man am besten mit einem Funkeln? Sehr hell sein – langweilig. Tanzen? – Quatsch mit Soße.
Mascha spürt, wie sie den Faden verliert, weil sie nachdenkt. Deshalb fühlt sie hin, wie es ist zu funkeln. »Jaaaaa, das ist es. Ich kann es verschenken«, flüstert sie begeistert, und Hilde, ihre Banknachbarin, sieht verwundert herüber.
Mit Feuereifer schreibt Mascha auf:
Mein Lieblingsort, der Baum
Du hast ein Funkeln in der Krone ,
weil deine Blätter sich bewegen .
Ich möchte so ein Funkeln sein
und es an alles weitergeben .
Das fühlt sich gut an, beschließt Mascha. Sie sieht auf und prüft, ob noch Zeit ist für einen zweiten Vers über Tinkapur, auch wenn sie kein Ort ist. Alle Kinder sind über ihre Hefte gebeugt, und Hilde nagt mit rotem Kopf angespannt an ihrem Stift. Ihr Blatt ist leer, bis auf einen Satz: »Mein Lieblingsort ist mein Bett.«
Als sie Maschas Blick bemerkt, schaut sie sie hilfesuchend an. Mascha zögert. Tinkapur oder Hilde?
In den Augen des Mädchens leuchtet Angst. Mascha schluckt und schließt für einen Moment die Augen. Sie weiß genau, wie es sich anfühlt, etwas nicht zu können wie die anderen. Hilde kann zum Beispiel gut sehen und braucht keine Brille wie Mascha. Deshalb wird sie auch nicht so oft gehänselt.
Mascha nimmt ein neues Blatt Papier, legt es etwas näher an Hilde heran und schreibt: »Mein Lieblingsort ist mein Bett. Simsalabim, in dir kommen Träume.« Sie wirft einen Seitenblick zu Hilde, um zu erfahren, wie diese den Anfang findet. Ihre blauen Augen werden groß, und sie lächelt. Gut , denkt Mascha und wartet erneut. Sie stellt sich fest vor, wie es sich anfühlt, Kleider zu tragen und so still und zaghaft wie Hilde zu sein.
Zack, schon kommen die restlichen Worte …
Simsalabim, in dir kommen Träume .
Mit ihnen fliege ich dann zum Mond .
Im Traum kann ich alles, weil in mir
nachts eine Zauberfee
Hier sieht Mascha zu ihrer Banknachbarin hinüber und lässt das letzte Wort weg, um es dem Mädchen zu schenken. Es ist ja sein Gedicht. Sie zeigt auf die leere Stelle und blickt Hilde fragend an; »wohnt« formen die Lippen des Mädchens, und seine Augen glänzen.
Das Pausenklingeln zerreißt diesen Moment. Alle Kinder geben am Lehrerpult ihre Arbeiten ab, und Maschas Gedicht verschwindet zwischen vierundzwanzig anderen Blättern.
Eigentlich weiß sie, was im Pausenhof passiert, wenn der beliebteste Junge aus ihrer Klasse auf sie zukommt. »Na Brillenschlange, Hässling!«, ruft Torsten und sieht sie herausfordernd, mit zusammengekniffenen Augen, an. Betont lässig streicht er sich durch das dichte, blonde Haar und wartet auf ihre Reaktion.
Sie entschließt sich wegzugehen und so zu tun, als hätte sie es nicht gehört. Etwas anderes fällt ihr nicht ein, um zu verbergen, wie die Scham ihren Kopf rot färbt.
»He, bist du auch noch eingebildet, oder was?!« Torsten stampft empört mit dem Fuß auf, weil das Mädchen ihn stehenlässt.
Mascha drückt ihr Kreuz durch und geht mit festem Schritt auf die andere Seite des Schulhofes.
Er sollte nicht denken, sie hätte Angst.
An die Schulhofmauer gelehnt, wartet sie. Doch Torsten ist ihr heute nicht gefolgt. Erleichtert atmet sie aus und tastet in Gedanken ihren Körper ab. Gab es denn außer der Brille noch etwas, was den Jungen an ihr so aufbrachte?
Sie ist schlankgewachsen und hat welliges, rotbraunes Haar, das ihrem Gesicht etwas Verwegenes gibt, wie Mama sagt. Die Sommersprossen und die kleinen, enganliegenden Ohren hat sie von ihrem Vater. Ihre Augen hinter den Brillengläsern schimmern grün und haben bernsteinfarbene Sprenkel wie die ihrer Mutter. Auch die kräftigen schlanken Hände und Füße der Mutter hat sie.
Was war nicht in Ordnung an ihr?
Wenn sie die Eltern fragte, schaute die Mutter sie kopfschüttelnd an und sagte fast immer: »Wieso, du bist doch ein ganz niedliches Mädchen.« Der Vater dagegen schaute verständnislos. Für ihn war es ganz einfach. Wenn man schlank war und muskulös, war man auch schön. Oder ist sie vielleicht nicht dünn genug?
Neulich hatte sie mit den Eltern ein Ballett im Fernsehen angesehen, und der Vater hatte gesagt: »Die Tänzerin links hat aber ganz schön dicke Stamper!« Seine Stimme hatte dabei denselben verächtlichen Tonfall gehabt wie der von Torsten, wenn er »Brillenschlange« sagte. Vielleicht ist sie ja auch noch nicht dünn genug? Mascha reibt sich den Kopf und atmet tief aus in Anbetracht von so vielen unbeantworteten Fragen.
»Wollen wir zusammen in die Klasse gehen?« Mascha dreht sich überrascht um und sieht Hilde, die seitlich hinter ihr steht und sie schüchtern ansieht.
Heiße Freude durchfährt Mascha, aber kurz darauf stellen sich Bedenken ein und sie senkt den Kopf. Vielleicht tue ich ihr ja nur leid? Papa sagt, nur Schwächlinge bedauert man. Und ich bin kein Schwächling. »Danke, ich komme klar!«, hört sie sich sagen und wendet sich hastig ab, um allein zurück in die Schule zu gehen.
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