Mama von Lucas
Die Lehrerin der sechsten Klasse meinte am Elternabend, dass Maité das Gymnasium in der Oberstufe »gut schaffen würde«. »Sie ist sehr fleißig, außerordentlich höflich und sehr nett. Ich nehme an, daheim ist sie genauso.« Ich dachte, ich höre nicht richtig. Aber ich war froh, dass sie zumindest in der Schule keine Probleme machte und da einen guten Eindruck hinterlässt. Zu Hause bricht sie dann jedoch völlig zusammen, weil die Schule zu anstrengend ist und so viel Energie kostet.
Mama von Maité
Das soziale Umfeld dieser Kinder ist von diesen Schwankungen oft irritiert, kann das widersprüchliche Verhalten dieser Kinder nicht verstehen. Solch ein Kind wirkt daher oft »manipulativ«. Es besteht die Gefahr, dass es als »ein Kind, das nur manipuliert« behandelt wird, wodurch das Selbstbild des Kindes wiederum weiter geschwächt werden kann. Und dafür gibt es einige Gründe.
Die Eltern von Leonardo zum Beispiel beschreiben ihn als manipulativ, weil er lügt. Manchmal benimmt er sich, als ob er von nichts eine Ahnung habe, obwohl er genau weiß, um was es geht. Er kann sehr nett sein. Seine Tanten und Onkel kennen ihn beispielsweise ausschließlich als sehr nettes Kind, während er in anderen Momenten – besonders zu Hause – seine Eltern zur Weißglut treiben kann. Zudem fühlt er sich ständig benachteiligt: So ist Leonardo davon überzeugt, dass seine Brüder zu Hause viel weniger mithelfen müssen, viel mehr Geschenke als er bekommen und auch noch viel mehr zum Anziehen haben als er. Wenn er dann etwas bekommt, wirkt er zwar für einen Moment beruhigt, aber seine Sehnsucht nach materiellen Dingen ist so groß, dass er schnell wieder unzufrieden ist und noch mehr will.
Aufgrund dieser »manipulierenden« Aspekte im Verhalten dieser Kinder zögern die betroffenen Eltern oft lange, bis sie eine Beratung in Anspruch nehmen. Dass die Probleme sich vor allem zu Hause zeigen, vermittelt den Eltern den Eindruck als seien sie keine guten Eltern, und diese Widersprüchlichkeit in der Wahrnehmung des kindlichen Verhaltens hindert die Eltern oft daran, sich auf die Suche nach einer »komplex traumasensiblen Beratung« zu machen.
Vreni’s Eltern berichten, dass ihre Tochter manchmal vollkommen überzeugend die »Opferrolle« spielt, weshalb sie Angst haben, dass ein Therapeut oder eine Therapeutin tatsächlich denken könnte, sie würden sich nicht gut um ihre Tochter kümmern. Zum Beispiel gab sie in der Schule einmal vor, zu Hause nie einen Duden zu bekommen, weshalb sie einfach nicht in der Lage gewesen sei, ihre Hausaufgaben ordentlich zu machen.
In ähnlicher Weise teilte Leonardo, als sie an einem Spielplatz vorbeiliefen, seinem Lehrer mit, dass er noch nie so etwas Schönes gesehen habe. Als die Eltern dann vorsichtig von den Lehrer*innen darauf angesprochen wurden, fühlten sie sich verurteilt und so, als ob sie Eltern wären, die ihr Kind vernachlässigten und noch nie mit ihm zum Spielplatz gegangen wären. Sie fühlten sich auch von Leonardo verraten, denn sie waren ja schon so oft mit ihm auf einem Spielplatz, und fragten sich, warum er so etwas nur sage.
Obwohl dies oft nur schwer zu erkennen ist, steckt hinter solch schwierigen Verhaltensweisen meist eine sehr große Angst.
Louise und Maya leiden unter Alpträumen. Louise wacht nachts oft schreiend und ängstlich auf, Maya träumt davon, dass ihre Eltern sie weggeben.
Viele dieser Kinder können, ihren Eltern zufolge, Verluste und Trennungen überhaupt nicht ertragen. Beispielsweise mögen diese Kinder zwar Gesellschaftsspiele, sobald sie jedoch verlieren, kommt es häufig zu fürchterlichen Szenen. Möglicherweise assoziieren diese Kinder bereits einen minimalen oder unvermeidbaren Verlust – wie bei dem Gesellschaftsspiel ›Mensch ärger’ dich nicht‹ – mit einem tieferen, existenzielleren Gefühl von Verlust und Mangel.
Hinzu kommt, dass diese Kinder häufig auch disharmonische Entwicklungsprofile oder inkonsistente Leistungen im schulischen Kontext aufzeigen.
Maya scheint in einigen Momenten problemlos zu lernen, zeigt dann aber eine unerwartet schlechte Leistung. Leonardo kann sich selbst basale Rechenkenntnisse nicht aneignen und sein Intelligenztest deutet auf eine geistige Einschränkung hin. In anderen Bereichen ist von so einer Einschränkung jedoch nichts zu sehen. Bei Vreni kommen eine ausgeprägte Legasthenie und Dyskalkulie vor. Celine durchläuft problemlos die Grundschule, bleibt allerdings in der Sekundarstufe hängen.
1.2 Kinder mit Gebrauchsanweisung
Was all diese Kinder gemeinsam haben, ist die Vielfalt an Symptomen, die sie aufweisen sowie große Schwankungen in ihren Leistungen und ihrem Verhalten. Dadurch passen sie nur selten in ein einziges Profil, was die Diagnosestellung erschwert. Oft erhalten diese Kinder daher von verschiedenen Therapeut*innen unterschiedliche Diagnosen. Das widersprüchliche, unvorhersehbare und manchmal explosive Verhalten ist typisch für diese Kinder und führt oft dazu, dass ein Therapeut oder eine Therapeutin ein Kind ganz anders einschätzt als ein anderer Therapeut oder eine andere Therapeutin oder ein Lehrer bzw. eine Lehrerin ein vollkommen anderen Eindruck von einem Kind bekommt als die Eltern des Kindes. Es wird jedoch nur selten angenommen, dass dieses widersprüchliche Verhalten das Ergebnis einer traumatischen Erfahrung sein könnte. Und selbst wenn das Trauma erkannt wird, ist es oft schwer vorstellbar, dass das Trauma einen Einfluss auf all diese Verhaltens-, Gefühls- oder Entwicklungsprobleme hat und dabei die zentrale Rolle spielt. So wird manchmal behauptet: »Okay, da ist das Trauma von früher, aber das kann doch nicht die Erklärung für all diese aktuellen Verhaltensauffälligkeiten sein?«
Gerade wegen der großen Schwankungen im Verhalten und im Funktionieren ist das Leben mit diesen Kindern für die Pflege- oder Adoptiveltern häufig besonders herausfordernd. Die Eltern berichten oft, dass sie »keine normale Familie« sein können. Was vielen Kindern Spaß macht, wie zum Beispiel gemeinsam zum Jahrmarkt oder zu einer Geburtstagsfeier zu gehen, ist für diese Kinder oft so überwältigend und aufregend, dass der Spaß durch die damit einhergehende Anspannung und Stressbelastung verschwindet. Einige Kinder benötigen strenge Rituale, um ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.
Zum Beispiel kann Maya nicht zur Schule gehen, solange sich ihre Buntstifte nicht in geordneter Reihenfolge in ihrem Mäppchen befinden. Hierdurch kommt ihre Mutter jedes Mal zu spät zur Arbeit. Jeder Versuch, Maya von diesem Ritual abzubringen, führt zu Auseinandersetzungen, wodurch der Morgen nur noch schwieriger wird. Tina fängt grundsätzlich an zu streiten, wenn ihr gesagt wird, dass es Schlafenszeit ist. Ihre Mutter beschreibt, wie das Adrenalin nach dem Streit noch stundenlang durch Tinas Körper rast, während sie doch dringend Ruhe bräuchte und Energie für den nächsten Tag tanken müsse.
Darüber hinaus haben viele der betroffenen Eltern auf der Suche nach einem angemessenen Gleichgewicht gelernt, Eskalationen zu vermeiden. Sie haben gelernt, sich weniger aufzuregen und nicht alles so ernst zu nehmen und nicht jeden Streit auszutragen (»choose your battles!«).
Das bedeutet zum Beispiel, dass Mayas Vater nicht gleich sauer wird, wenn Maya auf dem Spielplatz herumschreit: »Loser, nennst du das pünktlich sein?« Er teilt ihr dann in Ruhe mit, dass er der Meinung ist, dass man so nicht mit dem Papa redet, ohne auf eine weitere Diskussion einzusteigen. Dass dies für sie die beste Lösung ist, zeigt sich darin, dass sie sich anschließend erstmals für ihren Wutausbruch entschuldigen kann.
Diese elterliche Haltung löst im sozialen Umfeld jedoch oft nur wenige unterstützende Reaktionen aus. Meist hören sie dann Folgendes: »Bei mir wäre das anders.« oder »Wenn Sie das alles zulassen, ist es kein Wunder, dass sich Ihr Kind schlecht benimmt.« Dass Verhaltensprobleme und Erziehungsschwierigkeiten mit einem Trauma verbunden sein können und dass Eltern manchmal auf »ungewöhnliches« Verhalten mit »positiven Reaktionen« reagieren, ist für Außenstehende dabei meist unbegreiflich.
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