»In der aktuellen, aufgeheizten Stimmung wirkt leider schon das Wort Freihandel in unserm Land wie ein Brandbeschleuniger«, warf sie ein.
»Sicher, absolut einverstanden, aber du spekulierst jetzt, der Mord an Scholz wäre eine veritable Eskalation dieser Anti-Freihandels-Bewegung.«
Hatte sie sich so unklar ausgedrückt im Entwurf von letzter Nacht? Hatte er den Text überhaupt richtig gelesen? Sie verwahrte sich entschieden gegen die Unterstellung.
»Von spekulieren kann keine Rede sein, Martin. Du kennst doch die Reaktion in den sozialen Medien, auf Facebook und Twitter. Ich muss dich nicht an die Horror-Meldungen auf Twitter erinnern.«
Bevor er etwas erwidern konnte, hielt sie ihm das Display ihres Smartphones unter die Nase. Die Hetze im Netz ging auch nach dem Tod des Lobbyisten Scholz unvermindert weiter, was Martin veranlasste, den veritablen Mist trotz seiner Abneigung zu lesen.
Die Geschworenen @jury12
#PlayboyScholz sorgt für Billigimporte aus China. Wir Geschworenen sorgen für Deutschland.
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Deutscher Meister @deutschmeister
#PlayboyScholz ist tot. #ChinaFH ist tot. Es leben die Geschworenen. Gratuliere!
Die Geschworenen @jury12
#PlayboyScholz richtet keinen Schaden mehr an. Wir Geschworenen bleiben dran.
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Dirk Saubermann @dirk74
Die Geschworenen sind cool. Endlich sorgt jemand für Ordnung in diesem Land!!
Wolfi Ziehrer @wolferl
Wurde auch Zeit, dass einer den Saustall ausmistet! Fuck #ChinaFH!
Alex Kissin @kissalex
Kahlschlag der deutschen Wirtschaft gerade noch gestoppt. #PlayboyScholz verrotte in der Hölle!
Er scrollte einige Seiten weiter, bevor er das Handy über den Tisch zurückschob und sich vor Abscheu schüttelte.
»In was für einer Welt leben wir eigentlich?«, fragte er leise.
Sie reagierte mit der Gegenfrage:
»Hast du die Zahlen gesehen?«
»Die Tausende Retweets und Likes? Sicher, sieht ganz danach aus, als würde das Twitter-Volk jetzt komplett durchdrehen.«
»Dieser jury12 scheint die mysteriösen Geschworenen zu repräsentieren. Er – oder sie – hat die Hetze gegen den Lobbyisten orchestriert und ist seither äußerst beliebt. Jury12 hat bereits mehr Follower als der Kanzleramtsminister. Ich muss jury12 finden.«
»Viel Glück.«
Ein bitteres Lächeln huschte dabei über seine Lippen. Er glaubte nicht daran, dass sie das Geheimnis der Identität von jury12 je lüften würde.
»Wenn wir diesen jury12 finden, werden wir auch erfahren, wer die Geschworenen sind und wer wirklich hinter den Morden in Aachen steckt.«
Er schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich, ob du deinen Beruf verfehlt hast, Julia. Du solltest bei der Polizei arbeiten.«
»Um mich mit Kollegen wie diesem Fischer herumzuärgern?«, brauste sie auf. »Da ziehe ich dich und den roten Peter doch lieber vor.«
»Vielen Dank auch«, lachte er. »Das ändert aber nichts daran, dass wir deinen Bericht so nicht veröffentlichen werden.«
Sie gab noch nicht auf. »Der Zusammenhang zwischen dem Protest gegen die Geheimverhandlungen, den Geschworenen und dem Mord am Lobbyisten Scholz ist doch offensichtlich.«
Er wehrte ärgerlich ab. »Soll ich jetzt ernsthaft den Advocatus Diaboli spielen? Es gibt keinerlei Beweise für diesen Zusammenhang, das weißt du. Nein, wir lassen im Moment, und ich betone: im Moment, die Finger von der heißen Kartoffel. Die Hetze im Umfeld der Geschworenen meinetwegen aber kein Wort über das Kanzleramt und den Freihandel mit China. Haben wir uns verstanden? Ich brauche die überarbeitete Version bis elf Uhr.«
»Sollten wir nicht wenigstens die Pressekonferenz heute Mittag abwarten?«, warf sie ein.
»Wann findet die statt?«
»Halb zwei.«
Er rümpfte die Nase. »Wir machen es so: Du bereitest alles druckfertig vor bis 1100. Um 1500 habe ich die letzten Änderungen auf dem Tisch oder dein O. K.«
Er war der Chef. Übellaunig verließ sie die Sauna, dankbar nur für die kühle, wenn auch abgestandene Luft im Büro. Insgeheim musste sie zugeben, dass seine Vorsicht nicht unberechtigt war. Im Nachrichtenportal kündigte die militante Aktivistin Lotte Engel bereits eine Demo gegen die China-Pläne der Regierung an. Die Veranstaltungen dieses linken Engels zogen nicht nur regelmäßig Tausende Leute an. Sie bargen auch erhebliches Zerstörungspotenzial. Es wäre sicher nicht sonderlich klug, jetzt noch Öl ins Feuer zu gießen. Er hatte recht, wieder einmal, und sie ärgerte sich.
Das Zebra hielt kurz inne, um ihren Gemütszustand einzuschätzen. Nicht allzu beunruhigt hielt sie ihr die Schale mit den Schokokeksen hin. Sie lehnte dankend ab. Die Kollegin widmete sich wieder der bedauernswerten Tastatur. Sie selbst begann widerwillig, den Aachener Bericht zu entschärfen. Manchmal wünschte sie sich, beim großen Revolverblatt angeheuert zu haben. Die publizierten zwar häufig Müll, hatten aber wesentlich weniger Hemmungen, die Dinge beim Namen zu nennen.
Schlag elf Uhr sandte sie die Mail mit der neuen Version in die Sauna. Martin Brandt zeigte keine Reaktion, was bedeutete, dass er einverstanden war. Sie packte ihren Laptop in die Tasche und verließ die Redaktion. Die Fahrt nach Düsseldorf dauerte zwar keine Stunde, aber sie brauchte frische Luft vor der PK, und die Nudelsuppe im ›Takumi‹ war auch nicht zu verachten.
Drei Stunden später wusste sie, dass sie sich die Zeit für die Pressekonferenz im LKA Düsseldorf hätte sparen können. Die Ermittler waren kaum einen Schritt vorangekommen. Ein Zusammenhang der Morde mit den Geschworenen wurde zwar vom Staatsanwalt nicht ausdrücklich verneint aber eben auch nicht zugegeben. Die Fragen und Antworten konzentrierten sich im Wesentlichen auf den Polizisten, den Zeugen zur Tatzeit aus dem Haus des Antiquars Rosenblatt hatten kommen sehen. Ihr Lieblingskommissar Fischer deutete an, es handle sich möglicherweise um den Täter, der sich als falscher Polizist Zugang zu Scholzes Wohnung verschafft hatte. Sie konnte nicht anders, als das Wort zu ergreifen.
»Das bedeutet, man kann keinem uniformierten Polizisten mehr trauen, bis der Täter gefasst ist. Wie wollen Sie die Bevölkerung so noch schützen?«
Fischers Blicke töteten, aber er blieb die Antwort schuldig, ebenso der Staatsanwalt. Die Pressekonferenz war zu Ende.
Potsdam
»Dr. Roberts?«
Der Mann mit Halbglatze und Schweinsäuglein begrüßte sie mit jovialem Lächeln und kräftigem Händedruck. Chris hatte sich den Makler ganz anders vorgestellt. Die Stimme am Telefon passte zu einem Typen wie George Clooney aber nicht zu ihrem Gegenüber. Was kümmert dich seine Erscheinung? Er war gekommen, um sich das nun leer stehende Elternhaus anzusehen, hatte zudem einen fairen Preis versprochen. Sie wollte das Geschäft so bald wie möglich hinter sich bringen. Zu viele Erinnerungen verbanden sie mit diesem kleinen Haus unweit der Glienicker Brücke. Ging der Verkauf nicht rasch über die Bühne, würde er nie stattfinden, fürchtete sie. Das durfte nicht geschehen, denn weder sie noch ihr Mann Jamie waren in der Lage, sich weiter um das Haus zu kümmern. Jetzt nach dem Tod ihrer Mutter würde es verfallen. Auch das durfte nicht geschehen.
»Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen können«, sagte der Makler, »sicher nicht einfach in Ihrem Job.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. Als Hauptkommissarin beim BKA war sie selbst in der spärlichen Freizeit im Dienst und zwar mit einem Monatsgehalt, das der Makler in einer Woche verdiente, schätzte sie. Augen auf bei der Berufswahl. Trotzdem konnte sie sich keinen besseren Job vorstellen.
»Wollen wir dann mal?«, fragte der Makler, da sie reglos vor dem Haus stehen geblieben war, den Blick nach innen gerichtet.
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