Nichts. Aber sie wußte, daß das Unglück begonnen hatte. Sie wußte es nicht nur vom Eulenruf in der Morgendämmerung, nicht nur vom Totenwurm, der im Balken geklopft hatte, sondern sie wußte es von dem leisen Grauen, das langsam zu ihrem Herzen aufgestiegen war, so wie der Tod von den Füßen des Sterbenden langsam aufwärts steigt. Die Laima hatte gerufen, und nun begann es.
Sie hörte Balk draußen sprechen, und es kam ihr in den Sinn, ihn zu verfluchen. Aber sie wußte, daß er nicht schuld war. Auch ohne ihn kam es und würde das andre kommen. Es stieg aus dem Blut herauf, aber die Wurzel war schon im Dunklen begraben. Sie konnte um Geschlechter zurückliegen und ihre Wurzel wieder schon um Jahrhunderte, aber sie war noch am Leben. Ein gespenstisches Leben, zugedeckt von dem Dasein rechtlicher Geschlechter, die jedem das Seine gereicht hatten, aber immer noch da, immer noch wach und seine Stunde erwartend. Ein Unterirdisches, bleich und reglos wie eine Larve unter verwelkten Blättern, keiner Speise bedürftig, keines Lichtes, nicht einmal der Luft. Aber einmal wird ihr die Stunde gesagt, in der sie zu erwachen hat, sie beginnt ihre Füße zu regen, bleiche, vielgliedrige Füße, heraus aus dem Dunkel und der Verwesung, hinauf in die Blutbahn der Lebenden, und oben beginnt es, das Unrecht, die Tat, die die Herzen zerfrißt und in Schande stürzt.
Zum ersten Male hatte es angeklopft, und nun würde es weiterklopfen.
Und sie hatte sieben Kinder.
Schon im August, als die Abende länger wurden, begann Jons Ehrenreich damit, sich um die Dämmerung von seinen Wegen und Spielen zu trennen und in das kleine Schulhaus zu Herrn Stilling zu gehen. Zuerst war es ihm bitter, den Hirten Piontek zu verlassen, gerade wenn die Pilze in die heiße Asche gelegt wurden, oder den Meiler, oder die Insel, über die der Fischadler strich. Aber auch bei Herrn Stilling gab es Lockungen und Wunder, nicht so zu greifen wie ein Netz oder ein Bogen, aber von andrer Art. Schon die stille Lampe war etwas, was es zu Hause nicht gab, wo die Küchenlampe unter den Balken den trüben Schein über sie alle warf, wo jeder ein anderes Handwerk hatte und jeder seine eigene Sprache sprach.
Hier aber gab es das erste Schweigen, das er außer dem des Waldes und der Sterne kannte, ein Schweigen, das von den Büchern ausging, die an den Wänden des Zimmers standen, von der Weltkugel auf dem niedrigen Schrank, von des Lehrers alten Händen, die so ehrfürchtig die Blätter umschlagen konnten. Und hier gab es auch eine zweite Welt neben der bekannten der Gegenwart und der Dinge des Tages, eine schweigende Welt, die versunken und zu Staub verfallen war, aber deren Zeugen immer noch von ihrer Herrlichkeit kündeten. Die alten Reiche, ihr Aufstieg und Untergang. Die alten Entdeckungen und der Glanz um ihre verblaßten Fahnen. Propheten und Märtyrer, Forscher und Weise. Sterne, Pflanzen und Steine. Reiche der Erdgeister und Reiche der Götter. Und alles eingefangen und beschlossen hinter der alten Stirn, die sonst die Fibel lehrte oder das Buch der Bücher und auf der es nun leuchtete wie vom Stern der Weisen oder wie von Aladins Wunderlampe, die man in die Schächte und Gewölbe niedertrug.
Vielleicht war Stilling kein guter Lehrer, keiner, der Stufe um Stufe nach einem bescheidenen Plan in die Höhe stieg, immer den prüfenden Blick auf den ihm Folgenden gerichtet und nach einem begrenzten Ziele ausgehend und nur nach diesem, während alles Darüberhinausgehende anderen, weiseren Händen überlassen blieb. Er hatte soviel geschwiegen in seinem Leben, er hatte vierzig Jahre lang wie ein Kind sprechen müssen, damit Kinder ihn verstünden. Nun kam es wohl wie ein Rausch über ihn, der Rausch des Einsiedlers, der seine Schätze ausbreiten konnte, der das Zauberwort sprach, und bei seinem Klang leuchteten die jungen Augen auf. Er konnte schenken, statt zu bewahren. Er hob sich mit Flügeln auf über Länder und Meere, und er wußte, daß er sein Leben nicht vertan hatte, daß es späte Frucht trug und daß sie süße Speise werden würde in den jungen Händen.
Er erkannte früh, fast mit Erschrecken, welch ein glühender Hunger und Durst unter den dumpfen Rohrdächern sich in Geschlechtern sammeln konnte. Wie die Fron und Unterdrückung des Leibes, durch Jahrhunderte lastend, den Geist im Schlafe lassen konnte, ruhend wie ein tief versenkter Keim, bis die Erde über ihm aufbrach, durch ein Wunder, für das es keine Erklärung gab, und er nun wie eine Flamme herausschlug, die nach Nahrung suchte.
Noch wußte er nicht, woran sie brennen würde. Noch reichte er ihr nicht mehr als die Elemente hin, und seine Augen, wachsam und ängstlich bei allem Rausch, versuchten noch vergeblich zu erkennen, wohin der Geist in diesem Kinde dränge. Er übersah, daß ein Hungriger nur nach Speise verlangt. Doch konnte ihm nicht entgehen, daß das Herz seines kleinen Schülers schon zu unterscheiden begann und daß es bei dem Schicksal von Völkern anders schlug als bei den Bahnen der Sterne. »In der Bibel steht, daß Gerechtigkeit auf dem Acker hausen wird, Herr Stilling«, sagte er einmal, als der Lehrer vom Untergang Karthagos gesprochen hatte. »Aber mein Vater sagt, daß wenig Recht bei den Armen ist.«
Da versuchte der Lehrer, ihm zu erklären, daß das Reich Gottes und das Reich der Könige zweierlei Reiche seien, daß die Welt noch weit von dem entfernt sei, was die Propheten und nach ihnen Christus verkündet hätten; daß sie alle aber so leben müßten, als werde es schon morgen kommen und nur dann kommen, wenn sie ihr ganzes Leben dafür hingäben. Doch erschrak er hier zum erstenmal, indem er erkannte, daß sein Schüler vielleicht einmal »am ersten« nach dem trachten würde, wonach die Armen am leidenschaftlichsten trachteten, nach der Gerechtigkeit. Und da er wußte, daß kein Weg dieser Erde dornenvoller war und kein Schicksal gewisser als das derjenigen, die gegen die Gewalt aufbegehrten, so fragte er sich zum erstenmal, ob er selbst nun auch recht daran tue, ein Kind aus dem Dunkel seines Geschlechtes herauszuführen, es mit unvollkommenen Waffen zu versehen und es dann hinauszuschicken gegen eine Festung, die noch niemand bezwungen hatte, solange die Erde stand, aber vor der die Opfer aller Zeiten mahnend lagen, mit zerbrochenen Helmen und zerschnittenen Schilden.
Es erschreckte ihn so, daß er Jons mit einem Scherzwort nach Hause schickte und vor seiner Lampe sitzenblieb, in verzagten Gedanken den Weg der Menschheit bedenkend, insbesondere der Propheten und Märtyrer aller Zeiten. Er verhehlte sich nicht, ein wie winziger Teil der Welt ihm aus Leben und Anschauung bekannt war und daß alle Bücher, die von dem Ganzen der Welt sprachen, eben von Menschen geschrieben waren, dem Irrtum unterworfen, der Parteilichkeit und der Leidenschaft. Daß die Welt nicht von Büchern regiert wurde, sondern von der Tat, und daß die Taten anders ausgingen, als sie nach den Büchern hätten ausgehen sollen. Daß die Ordnung dieser Welt, wie sie von Gott eingesetzt war, nicht nur Menschengerichte enthielt, sondern ein Weltgericht verkündete, daß sie also schon bei Beginn der Schöpfung das Unvollkommene, ja das Ohnmächtige alles Menschengerichts gewußt haben mußte. Daß das Weltgericht über dem Menschengericht wie das Jenseits über dem Diesseits stand, als eine Tröstung also oder Verheißung, und daß die Gerechtigkeit also ein Traum war wie das Reich Gottes, nie zu erfüllen auf dieser Erde, aber mit Opfern zu bezahlen, als könnte sie erfüllt werden. Eine große Pflicht oder eine große Täuschung, wie alles andre, ein Ungewisses, das nur zu glauben war und in das er das Kind hineinstieß.
Er hätte es im Frieden leben lassen können, als ein Köhler oder Fischer etwa, im Engen und Halbdunklen, aber für den Gang der Erde so notwendig wie seine Väter und Ahnen. Er hatte es aus dem Sicheren herausgenommen und in das Schwankende gestellt und war nun dabei, ihm die Kinderwaffen umzuhängen, mit denen es gegen die Riesen kämpfen sollte. Nicht der Sieg war ihm gewiß, sondern nur der Tod, und vor dem Tode die Leiden aller, die ihr Leben an eine Idee gegeben hatten.
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