1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Auch wenn dieser zweite Aufbruch still und leise verlief, ließ es sich die Ringarooma nicht nehmen, die Discovery auf den Weg zu bringen, und so konnte Crean seinen Kameraden persönlich Lebewohl sagen. Bis die Discovery aus dem Süden zurück sein und wieder in Lyttelton festmachen würde, sollten zweieinhalb Jahre vergehen.
Der Weihnachtstag 1901 verlief sicherlich anders, als Crean und die anderen Männer es sich je hätten erträumen lassen. Die Discovery bewegte sich langsam Richtung Süden – an Bord die erste britische Expedition, die wieder Richtung Antarktis fuhr, seit Sir James Clark Ross es sechzig Jahre zuvor zuletzt gewagt hatte. Nach Feiern war offenbar niemandem zumute, die Stimmung an Bord eher nachdenklich. Die Erinnerung an Bonners Tod war noch zu frisch, und einige der traditionell abergläubischen Seeleute werden den Unfall als schlechtes Omen für die gesamte Reise aufgefasst haben.
In der Gewissheit, dass er mindestens ein Jahr lang keinen Kontakt mit der Zivilisation haben würde, notierte Scott:
Den Weihnachtstag verbrachten wir in den endlosen Weiten des Südlichen Ozeans, aber der Abschied von unserem Freund lag erst so kurz zurück, dass niemandem von uns nach Feiern zumute war, und so verstrich der Tag ereignislos. 6
In Gedanken an den Tod Bonners wurde das traditionelle Weihnachtsessen vertagt und am 5. Januar nachgeholt. Da hatte die Discovery den südlichen Polarkreis bereits gequert. Der Schiffszimmermann Duncan, der aus Dundee stammte, dem Heimathafen der Discovery , beschrieb die melancholische Stimmung, die zum Jahreswechsel an Bord herrschte, während das Schiff sich durch den Südlichen Ozean arbeitete, wie folgt:
Der Neujahrsmorgen begann mit gutem Wetter und ließ mich an die Lieben daheim denken, die gut 25 000 Kilometer entfernt sind. Wir befinden uns so weit im Süden wie seit einem Jahrhundert kein Schiff mehr und fernab jeglicher Zivilisation. Wann wir zurückkehren, steht in den Sternen. Hoffen wir das Beste. 7
Immerhin war der Discovery gutes Wetter beschieden, was in Anbetracht der überquellenden Decks und des berüchtigten Reviers, in dem sie sich befanden, ein echter Glücksfall war. Der Südliche Ozean ist das wind- und wellenreichste Gewässer der Erde, und ein starker Sturm wäre für das Schiff eine ernsthafte Bedrohung gewesen. Scott war sich der Tatsache bewusst, dass schlechtes Wetter »extrem unangenehme Folgen« gehabt hätte, und innerlich darauf eingestellt, im Falle eines Falles die Decksladung aufzugeben – ein Wirrwarr aus Proviantkisten, Kohlehalden, fünfundvierzig verängstigten Schafen sowie dreiundzwanzig heulenden Hunden.
Den ersten Eisberg sichteten die Männer der Discovery am 2. Januar 1902 auf 65°30' südlicher Breite. Tags darauf querten sie den südlichen Polarkreis, der auf 66°33'55" S verläuft, und hielten sich Bernacchi zufolge an die alte Sitte, die es den Matrosen erlaubt, den aus diesem Anlass fälligen Drink auf dem Tisch der Messe stehend zu sich zu nehmen. Man stelle sich den kräftig gebauten Crean vor, wie er zum ersten Mal an diesem Ritual teilnimmt. Viele weitere Male sollten folgen.
Die erste Sichtung von Antarktika fand laut Logbuch am 8. Januar 1902 um 22:30 Uhr statt. Scott notierte:
Wer nicht an Deck war, kam angelaufen, um einen ersten Blick auf den antarktischen Kontinent zu werfen. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel über dem südlichen Horizont und beleuchtete die Szenerie taghell. 8
Bernacchi, dessen Wurzeln in Italien lagen, äußerte sich ausführlicher und emotionaler zu dem Ereignis, obwohl er der Einzige an Bord war, der sich nicht zum ersten Mal in diesen Breiten aufhielt. Er hatte als Physiker die Expedition des Norwegers Carsten Borchgrevink mitgemacht, die 1899 an Bord der Southern Cross zum ersten Mal in der Geschichte einen Winter in der Antarktis verbracht hatte. Doch auch beim zweiten Mal hatte die Landschaft, die sich vor ihm auftat, nichts von ihrer Faszination verloren.
Der Anblick, der sich uns bot, war von einer überwältigenden, nicht für möglich gehaltenen Schönheit, und so blieben wir bis zum nächsten Morgen an Deck. 9
Ungeachtet der langen Dauer der Expedition, zeichnete Bernacchi in seinem Buch The Saga of the Discovery ein durchweg positives Bild vom Alltag an Bord, ein Bild, das nicht in allen Punkten mit dem übereinstimmt, was andere berichteten. Bei ihm hieß es etwa:
Über die volle Länge der dreijährigen Reise betrachtet, kann man die Discovery durchaus als ein glückliches Schiff bezeichnen. Ich kann mich nicht an einen einzigen ernsthaften Streit erinnern, weder unter den Offizieren noch unter Mitgliedern der Mannschaft. Auf ihr herrschten Friede und Eintracht. 10
Die Beschreibung widerspricht dem, was wir aus anderen Quellen wissen, und ignoriert, dass die einfachen Crewmitglieder durchaus Anlass hatten, sich zu beklagen. Denn ungeachtet der widrigen äußeren Bedingungen blieben sie den strengen Regeln der Dienstordnung und den rigiden Vorgaben des militärischen Gehorsams unterworfen. Thomas Williamson, einer von Creans Kameraden, hielt in seinem Tagebuch eine Beschreibung vom ebenso anstrengenden wie nervtötenden Alltag fest, die sich von Bernacchis Schilderung deutlich unterscheidet:
Die Monotonie, mit der wir jeden Morgen das Deck schrubben müssen, selbst in der Antarktis und bei Temperaturen, die weit unter dem Gefrierpunkt liegen, ist nur schwer zu ertragen. Offenbar sind die Vorgesetzten nicht fähig, die Vorschriften anders auszulegen als wortwörtlich (Du sollst das Deck schrubben, wo auch immer das Schiff sich befindet). … Sobald das Wasser aufs Deck trifft, gefriert es, und dann müssen wir mit Schaufeln das Eis aufsammeln, zu dem das Wasser erstarrt ist. 11
Frank Wild, der sowohl mit Scott als auch mit Shackleton fahren und sich dabei stets bewähren sollte, machte keinen Hehl daraus, dass die Fahrt der Discovery seit dem Beginn der Reise auf der Isle of Wight von Problemen begleitet war, wie er in einem Brief in die Heimat bekannte: »Die Reise nach Neuseeland war weder interessant noch unbeschwert.« 12
Der Chefmaschinist Reginald Skelton berichtete von einem Zwischenfall, der als weiterer Beleg für die Unzufriedenheit der Männer gelten kann. Zwei Heizern wurde die Ration Grog und Tabak gestrichen, weil sie sich, wie Skelton es nannte, in »deutlichen Worten« über ihr Essen beklagt hatten. Scotts Biograf Roland Huntford ist davon überzeugt, dass die Besatzung der Discovery unter der strengen Bordroutine litt, die unter den gegebenen Bedingungen gänzlich unangemessen war. Zudem seien die Männer schlecht informiert und deshalb verunsichert gewesen. Niemand, so Huntford, hatte es für nötig erachtet, sie darüber zu informieren, wohin die Reise ging und wie lange sie dauern würde.
Außerdem litt die am besten ausgerüstete Expedition, die das britische Königreich je Richtung Süden geschickt hatte, an einem eklatanten Mangel der Offiziere an Wissen um und Verständnis für die Bedingungen und Erfordernisse der Region, in der sie sich befanden. Nur drei Männer waren je zuvor im Eis gewesen. Bernacchi hatte Borchgrevink in die Antarktis begleitet, Kapitänleutnant Albert Armitage und der Schiffsarzt Reginald Koettlitz hatten vor einigen Jahren die Jackson-Harmsworth-Expedition in die Arktis mitgemacht.
Creans Kameraden an Bord der Discovery waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der vor allem durch die tiefe Verbundenheit jedes Einzelnen mit der Navy zusammengehalten wurde, eine Verbundenheit, die sich in erster Linie dem Einfluss Markhams verdankte.
Scotts Stellvertreter war Albert Armitage, ein Offizier der Handelsmarine, der von der Peninsular & Oriental Navigation Co. Ltd. kam. Zum Offizierskorps gehörten auch zwei Leutnants, die mit Scott schon auf der HMS Majestic gefahren waren: Michael Barne und Reginald Skelton. Leutnant Charles Royds konnte immerhin darauf verweisen, dass sein Onkel Wyatt Rawson früher einmal in der Arktis gewesen war. Der sechste und letzte Offizier war Ernest Shackleton, ein lebensfroher und beliebter Mann, der von der Handelsmarine gekommen war. Er stammte aus der irischen Provinz Kildare, war aber in Yorkshire und London aufgewachsen.
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