Sechs Wochen später, am 1. April 1904, fuhren die drei Schiffe unter Segeln in den Hafen von Lyttelton ein. Es war Karfreitag, das Wetter angenehm warm, noch wärmer war der Empfang, den ihnen die Neuseeländer bereiteten. Scott berichtete, dass sie mit »Zeichen der Gastfreundschaft und Gefälligkeiten regelrecht überschüttet« wurden. Nun, da sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, gönnten sich die Männer eine Pause von zwei Monaten, in denen sie sich von den Strapazen erholten. Dann erst machten sie sich auf den Weg nach England.
Am 10. September erreichte die Discovery Spithead, den östlichen Teil des Solent, von dort fuhr sie zu ihrem endgültigen Liegeplatz in den East India Docks am Ufer der Themse, wo sie am 15. September 1904 eintraf. Ihre Reise hatte drei Jahre und einen Monat gedauert. In ihrer Abwesenheit hatte der Burenkrieg ein Ende gefunden, die Brüder Wright hatten den ersten Motorflug absolviert, Russland und Japan einen blutigen Konflikt begonnen.
Als Tom Crean im September 1904 zurück in der Zivilisation war, waren seine kühnsten Erwartungen übertroffen worden. Er hatte sich den Ruf eines überaus verlässlichen und wertvollen Mitglieds der Polarexpedition erworben – zu einer Zeit, in der es Klassenunterschiede und die strenge Trennung zwischen Ober- und Unterdeck für einfache Seeleute schwer machten, die Aufmerksamkeit der Offiziere zu erregen, eine wahrlich bemerkenswerte Leistung.
Zum ersten Mal in seinem Leben stach der bescheidene Ire aus der Masse heraus. Nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen konnte 1904 von sich behaupten, in Antarktika gewesen zu sein, und in diesen exklusiven Kreis gehörte der siebenundzwanzigjährige Mann aus Kerry. Der Spruch, mit dem die Navy für sich warb, hatte sich an ihm erfüllt: Er war »alles andere als Durchschnitt«.
Dass er bei Kameraden und Offizieren gleichermaßen beliebt war, hatte er sich durch seine Einsatzbereitschaft verdient, die es ihm auch ermöglicht hatte, sich schneller als andere mit den lebensfeindlichen Bedingungen in der Antarktis zu arrangieren. Sein Arbeitseifer, insbesondere im Zuggeschirr vor den Schlitten, hatte die Aufmerksamkeit seines direkten Vorgesetzten Barne erregt. Und auch Scott war nicht entgangen, wie wertvoll der Ire war, vor allem, weil er bei allen individuellen Stärken ein Teamplayer war – nahe dem Südpol, wo sich die Männer auch in kritischen Situationen aufeinander verlassen können mussten, ein wesentlicher Faktor.
Bevor Crean zufällig zur Discovery -Expedition gestoßen war, hatte er sich eher treiben lassen und den zum Ende des Viktorianischen Zeitalters wenig attraktiven und unbefriedigenden Dienst in der britischen Navy ohne jeden Ehrgeiz verrichtet. Er war ein Matrose unter vielen, der sich in kleinen Schritten der Pensionierung näherte.
Doch unterdessen war alles anders geworden. Antarktika, der abweisendste Ort der Welt, hatte seinem Leben einen Sinn und eine Richtung verliehen. Dort hatte er den Schritt vom Jungen zum Mann vollzogen und sich zu einem verantwortungsvollen und fähigen Matrosen und Polarreisenden entwickelt. Durch einen Zufall hatte er seine wahre Bestimmung gefunden.
Kein Zufall hingegen war es, dass Scott und Shackleton die Fähigkeiten des Iren aufgefallen waren und er zu jener Handvoll Männer gehörte, die sie auf den anstehenden Reisen gen Süden unbedingt dabeihaben wollten. Und schon gar kein Zufall war es, dass er, ohne zu zögern, zustimmte.
Für die gut zweieinhalb Jahre, die er unter widrigsten Bedingungen in der Einsamkeit der Antarktis verbracht hatte, wurde Crean mit 55 Pfund, vierzehn Shilling und elf Pence (entsprechend 2850 Pfund) entlohnt. 1Immerhin wurde sein Beitrag zur Discovery -Expedition offiziell anerkannt und von Scott im Bericht ausdrücklich erwähnt. Er schlug Crean zur Beförderung zum Bootsmann vor und empfahl, die Beförderung – samt der damit einhergehenden Erhöhung des Solds – rückwirkend auszusprechen und mit dem Tag der Heimkehr der Discovery beginnen zu lassen. Scotts Beurteilung, verfasst Anfang September 1904, legt ein beeindruckendes Zeugnis über den Mann aus Irland ab. Darin heißt es, Crean verdiene »Anerkennung für vorbildliche Führung und tadellose Ausübung des Dienstes während der gesamten Dauer der Antarktisexpedition in den Jahren 1901–04«. 2
Wie allen Mitgliedern der Expedition wurde Crean für seine Leistungen im äußersten Süden die »Antarctic Medal« verliehen. Zusätzlich erhielt er eine Auszeichnung der Königlichen Geografischen Gesellschaft, und das uneingeschränkte Lob durch Scott wurde schließlich von Sir Clements Markham, dem »Vater« der Expedition, aufgegriffen. Nach der Rückkehr der Discovery und sicherlich nicht ohne Rücksprache mit Scott gab Markham eine eigene Beurteilung ab, die typischerweise eigenwillig und unkonventionell geriet. Darin vergleicht er den Mann aus Kerry mit einem der berühmtesten englischen Helden früherer Zeiten: »Ein ausgezeichneter Mann, groß gewachsen und an den Duke von Wellington erinnernd. Bei allen beliebt.« 3
Nicht unterschlagen werden soll, dass Crean bei der Ankunft in Neuseeland erfahren hatte, dass seine Mutter Catherine unterdessen gestorben war. Markham zufolge wurde Crean daraufhin angeboten, abzumustern und in die Heimat zu reisen, doch weil er letztlich nichts mehr tun konnte, entschied sich Crean, zu bleiben. Seit mehr als elf Jahren war er nicht mehr zu Hause gewesen, und in dieser Zeit hatte er ein gänzlich anderes Leben gelebt, als er es aus der ländlichen Gemeinde in Kerry kannte.
Markhams Anmerkungen zum Tod von Creans Mutter lassen derweil jedes Verständnis vermissen und sind ein Beleg für die fehlende Sensibilität des älteren Herrn.
Weil seine Mutter gestorben war, haben wir ihm angeboten, abzumustern und von Bord zu gehen, aber er hat sich eines Besseren besonnen und sich für die Navy entschieden. 4
Creans Beförderung zum Bootsmann wurde zum 9. September 1904 ausgesprochen, und schon bald darauf ging er wieder seinem Dienst nach. Seine Heldentaten waren ein beliebtes Gesprächsthema, und gelegentlich nahmen seine Kameraden sie zum Anlass, ihn zum Spaß aufzuziehen. Als waschechter Ire, der nicht auf den Mund gefallen war, wusste er solche Frechheiten aber leicht zu erwidern.
Die Aufgaben, die ihm zugewiesen wurden, bildeten in gewisser Weise einen Gegenpol zu den Abenteuern, die er mit der Discovery in der Antarktis erlebt hatte. Am 1. Oktober 1904 wurde er auf die HMS Pembroke abkommandiert, die in der Marinebasis von Chatham in Kent lag. Nach zweieinhalb Jahren in der Antarktis wird der Dienst dort eintönig und wenig aufregend gewesen sein, und mit Sicherheit sehnte sich Crean spannendere Aufgaben herbei. Sein Wunsch sollte sich schon bald erfüllen und er erneut mit Scott zusammenkommen. Die Beziehung der beiden sollte bis zum Tod des Polarforschers im Jahr 1912 andauern.
Doch zunächst wechselte Crean auf die HMS Vernon in Portsmouth, auf der Torpedoschützen ausgebildet wurden. Im Februar traf er dort zufällig Taff Evans wieder, seinen alten Bekannten von der Discovery , der unterdessen ebenfalls Bootsmann geworden war. Bei einem oder zwei Drinks ließen sie die alten Zeiten aufleben und wogen die Aussichten ab, bald erneut gen Süden zu fahren.
Scott wollte Crean wieder in seiner Nähe wissen. Er war niemand, der auf Menschen zuging, aber Crean hatte ihn auf der Reise in die Antarktis offenbar so sehr beeindruckt, dass er ein natürlicher Kandidat für die nächste Fahrt gen Süden war, die Scott um jeden Preis unternehmen wollte. Doch fast das ganze Jahr 1905 über war er vollauf damit beschäftigt, ein Buch über die Discovery -Expedition zu schreiben, das am 12. Oktober 1905 endlich erschien.
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