Im Grunde waren die Männer, die sich auf die gefährliche Reise in die weiße Wüste begaben, blutige Anfänger, die es zudem versäumt hatten, sich mit den beiden für den Zweck am ehesten geeigneten Transportmitteln zu befassen: Hunden und Skiern. Und so mussten sie schließlich zu dem veralteten und qualvollen Mittel greifen, mit dem sie vertraut waren, und sich selbst vor die Schlitten spannen.
So wurde die Exkursion schon nach kürzester Zeit zu einer Schinderei, bei der die Männer bis zu den Knien im Schnee versanken und die schweren Schlitten wieder und wieder in Eisspalten hängen blieben. Sechs der Begleiter machten sich am 13. November auf den Rückweg, die Übrigen erreichten zwei Tage später 79°15' S – so weit nach Süden war bis dahin noch niemand gekommen. Der Erfolg war bemerkenswert, aber auch hart erarbeitet.
Während Barne, Crean und die anderen umkehrten und nach Norden wanderten, ahnte Scott, dass jenen, die weiter nach Süden strebten, »extreme Anstrengungen« bevorstanden. Mit dieser Prophezeiung sollte er recht behalten, denn für die ersten 175 Kilometer benötigten die drei Männer dreißig Tage. Anders gesagt, schafften sie kaum mehr als fünf Kilometer am Tag. Verantwortlich dafür waren das Gewicht der Schlitten und die fehlende Übung im Umgang mit den Hunden, vor allem aber Scotts Entschluss, für den Transport der Ausrüstung eine Art Staffelsystem einzuführen – mit der Folge, dass die Männer drei Kilometer zurücklegen mussten, um ihrem Ziel einen Kilometer näher zu kommen: Zunächst nahmen sie einen Teil der Ladung auf die Schultern und trugen ihn einen Kilometer weit voraus, um anschließend in den eigenen Fußspuren zurückzugehen und die restliche Fracht zu holen.
Bis zu zehn Stunden pro Tag betrieben, war diese Art der Fortbewegung für Körper und Geist gleichermaßen Gift. Am 14. Dezember, zu einem Zeitpunkt also, an dem sich die Exkursion erst in der fünften Woche befand und die Männer noch halbwegs bei Kräften waren, legten sie sage und schreibe drei Kilometer zurück, und auch die nur »unter größten Anstrengungen«.
Je schwerer die Arbeit wurde, desto größer wurde der Hunger. Und schlimmer noch: Die ersten Anzeichen von Skorbut stellten sich ein. Besonders stark litten die Hunde, die notorisch unterversorgt waren. Der erste starb am 10. Dezember, und Scott sah sich gezwungen, darüber nachzudenken, wie lange sie gen Süden gehen konnten, wenn, womit zu rechnen war, weitere sterben sollten. So wurden die Hunde von einer Hilfe nach und nach zur Last.
Doch noch kamen die Männer, wenn auch langsam, voran, und jeden Tag sichteten sie Neuland. Am 28. Dezember schlugen sie ihr Lager auf 82°11' S auf. Von der unzureichenden Nahrung, der schweren Arbeit und dem fortschreitenden Skorbut waren sie stark geschwächt, sodass Scott in sein Tagebuch notierte: »Bald haben wir unser Pulver verschossen.« 2
Shackleton litt unter den Umständen mehr als die anderen, und am 30. Dezember ließen Scott und Wilson ihn im Zelt zurück, übertrugen ihm die Aufsicht über Hunde und Ausrüstung und machten sich auf Skiern auf den Weg nach Süden. Sie gelangten bis auf 82°17' S und stellten damit einen neuen Rekord auf. Bis zum Südpol blieben aber noch immer gut 850 Kilometer. Dass er zurückgelassen worden war und am Teilerfolg nicht teilhaben konnte, empfand Shackleton als schwere Kränkung, die er zeitlebens nicht vergessen sollte.
Der Rückweg zum Schiff wurde zu einem verzweifelten Duell mit der Zeit. Der Hunger drohte überhandzunehmen, und der Skorbut setzte den Männern mehr und mehr zu. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie die Anstrengungen, die vor ihnen lagen, und den Bedarf an Lebensmitteln maßlos unterschätzt hatten. Nun hing ihr Leben von den Depots ab. Doch die waren nur unzureichend markiert und entsprechend schwer zu finden.
Shackletons Gesundheitszustand verschlechterte sich so sehr, dass er dem Zusammenbruch nahe war. So mussten zwei erschöpfte und ausgehungerte Männer die komplette Last schleppen, die eigentlich für drei gedacht war. Deshalb warf Scott alles weg, was nicht unbedingt gebraucht wurde, und tötete auch die verbliebenen Hunde. Shackleton hatte genug an seinem eigenen Gewicht zu schleppen, und so trottete er, nach Luft ringend, neben den Schlitten her, während Scott und Wilson mit letzter Kraft zogen. Scott hatte sie auch um die Skier erleichtert, die bis auf ein Paar zurückgeblieben waren.
Shackleton spuckte unterdessen Blut und kollabierte, weshalb er auf den Schlitten gelegt und von den beiden anderen gezogen wurde. Wilson war jedoch davon überzeugt, dass das Mehrgewicht sie heillos überfordern würde und sie schließlich alle drei zum Tode verurteilt wären. Eines Abends sagte er zu Scott, dass Shackleton die Nacht wohl nicht lebend überstehen würde. Shackleton schnappte die Bemerkung auf. Jahre später hatte er Anlass, sich daran zu erinnern, als Scott und Wilson auf dem Rückweg vom Südpol unweit jener Stelle auf dem Schelfeis zu Tode kamen.
Shackletons Zähigkeit und Willensstärke, die er bei späteren Expeditionen mehrfach unter Beweis stellen sollte, zeigten sich auch jetzt, und irgendwie gelang es ihm, das Martyrium zu überleben. Die Kraft dazu schöpfte er möglicherweise auch aus der Abneigung, die Scott ihm zunehmend entgegenbrachte. Der hatte auf Shackletons Schwäche überaus negativ reagiert und sie als »Versagen« gebrandmarkt. Wilson hatte eingreifen müssen, um zu verhindern, dass Scott den Kranken lautstark beschimpfte, obwohl sich letztlich alle drei in einem Wettlauf mit dem Tod befanden.
Am 3. Februar – noch waren sie knapp zwanzig Kilometer von der rettenden Discovery entfernt – trafen die Männer unverhofft auf Bernacchi und Skelton. Nach drei Monaten auf dem Schelfeis, halb verhungert und vom Skorbut gezeichnet, waren die drei Kameraden kaum mehr zu erkennen. Scott schrieb: »Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass wir nicht zu früh zurückgekommen sind.« 3
Während die Gruppe um Scott auf eine harte Probe gestellt wurde, unternahm die Gruppe um Barne, zu der auch Crean gehörte, eine zwar anstrengende, aber letztlich problemlose Exkursion Richtung Südwesten. Als sie am 20. Dezember 1902 loszogen, schleppten die Männer, auf zwei Schlitten verteilt, ein Gewicht von mehr als 500 Kilogramm hinter sich her, zu dem unter anderem Vorräte für fünf Wochen sowie Petroleum für sechs Wochen beitrugen. Fünf Tage nach dem Aufbruch verbrachten sie, in einem Zelt zusammengepfercht, als erste Menschen das Weihnachtsfest auf dem antarktischen Eisschild.
Aus diesem Anlass hatten ihnen die Kameraden von der Discovery Weihnachtskarten geschrieben, die den Weg über das Eis mitmachten. Williamson und die anderen waren trotz der bitteren Kälte darauf bedacht, das Fest nicht ausfallen zu lassen. Nach dem Essen quetschten sich alle sechs in ein Dreimannzelt, um dort, wie Barne es nannte, ein »Konzert« zu geben, an dem sich alle beteiligten, was insbesondere Crean gefallen haben dürfte.
Er war dafür bekannt, dass er gern sang und in jedes Lied einstimmte, das irgendwo erklang. Und was für »normale« Zeiten galt, galt unter den gegebenen Bedingungen umso mehr. Zudem wurde seine Stimme von einem »Weihnachtsgeschenk« geölt, das jemand auf einen der Schlitten geschmuggelt hatte: »Zusätzliche Motivation bezogen wir aus einer Flasche Portwein, die zu diesem Zweck ins Gepäck gelangt war«, bekannte Barne. 4Und er lobte seine Mitreisenden überschwänglich, wobei ihnen allen zugutekam, dass niemand unterwegs krank geworden war oder sich verletzt hatte, was den Erfolg der Exkursion bedroht hätte. An Scott gerichtet, schrieb er:
Ich kann die Männer, die sich vor die Schlitten spannten, nicht hoch genug loben. Jeder Einzelne von ihnen war während der gesamten Zeit guter Dinge, und keiner hat sich je über etwas beklagt oder Anzeichen von Unzufriedenheit erkennen lassen. 5
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