Am 30. Januar kehrte die Gruppe um Barne zur Discovery zurück, die noch immer im McMurdo-Sund lag und in einer eineinhalb Kilometer großen Eisfläche gefangen war. Und wenn sie nicht bald freikäme, würde sie einen weiteren Winter im Süden verbringen müssen.
Während die Männer sich auf dem Eis aufgehalten hatten, war die Morning eingetroffen, die von Captain William Colbeck befehligt wurde und losgeschickt worden war, um nötigenfalls Hilfe zu leisten. Doch nun trieb Colbeck die Sorge um, selbst vom Eis eingeschlossen zu werden und zwölf Monate in Gefangenschaft verbringen zu müssen. Colbeck hatte gemeinsam mit Borchgrevink und Bernacchi die Southern Cross -Expedition mitgemacht und kannte die Gefahr, die vom Eis ausging. Dieser Gefahr wollte er in jedem Fall entgehen.
An Bord der Morning befand sich auch Edward »Teddy« Evans, ein junger Leutnant der Marine. In Antarktika traf Evans – der später Lord Mountevans hieß – auf Scott und die Matrosen Crean und Lashly, die auf diese oder jene Weise in seinem Leben noch eine wichtige Rolle spielen sollten.
Scott wusste, wie prekär seine Lage war, und begann umgehend damit, die nächste Überwinterung vorzubereiten. Die Lager wurden mit frischem Fleisch von Robben, Raubmöwen und Lamm aus Neuseeland aufgefüllt. Und er beschloss, acht seiner Männer, vornehmlich Mitglieder der Handelsmarine, mit Colbeck zurück in die Heimat zu schicken. Bezeichnenderweise war auch Shackleton unter denen, die die Discovery verlassen mussten.
Der war über diese Entscheidung tief gekränkt, weil ihm nun die Ehre versagt blieb, zu jenen zu gehören, die die Eroberung des Südpols in Angriff nahmen – möglicherweise erfolgreich. Das empfand er als unverdiente Strafe, und als die Morning am 2. März 1903 den McMurdo-Sund verließ und Kurs Richtung Norden nahm, verlor er die Fassung und weinte bitterlich.
Am Hut Point war die Stimmung nicht wesentlich besser, als die Morning am nördlichen Horizont verschwand und die Männer sich auf ein weiteres Jahr Einsamkeit einstellen mussten. Am 13. März 1903 notierte Scott: »Ich habe die Hoffnung, das Eis könnte sich doch noch zurückziehen, endgültig aufgegeben.« 6
Den Winter verbrachten sie genauso wie den vorherigen und hielten sich mit wissenschaftlichen Untersuchungen, Pflichterfüllung und mancherlei Spielen so gut es ging bei Laune. Einmal veranstalteten sie bei –40 °C ein Fußballspiel – »Verheiratete und Verlobte gegen Junggesellen«. Wie es ausging, ist nicht überliefert, aber die Kälte zwang sie, die Halbzeiten auf jeweils dreißig Minuten zu verkürzen.
Der zweite Winter war kälter als der erste, aber nun konnten die Männer auf einige wertvolle Erfahrungen zurückgreifen. So gestand Bernacchi zwar ein, dass sich der zweite Winter »unendlich hinzog«, fügte aber hinzu:
Dank des Wissens, über das wir inzwischen verfügten, vor allem hinsichtlich der Ernährung, gingen wir 1903 wesentlich fitter in den Sommer, als das im Jahr zuvor der Fall gewesen war. 7
Auch Lashly sehnte sich zurück in die Zivilisation – »um mal wieder was anderes zu sehen« – und notierte am 1. April 1903 in sein Tagebuch:
Die schlimmste Zeit des Jahres steht unmittelbar bevor. In drei Wochen geht die Sonne unter und lässt sich monatelang nicht sehen. Aber solange wir gesund bleiben, soll uns das nichts anhaben. 8
Scott zufolge verlief der Winter, ungeachtet des Wetters, »ausgesprochen ruhig und unaufgeregt«. Trotzdem wurden unter Deck eifrig Pläne für den bevorstehenden Sommer und die anstehenden Schlittentouren geschmiedet. Scott hatte sich vorgenommen, mit einer Gruppe von Männern den Ferrar-Gletscher zu erkunden, Royds und Wilson sollten zum Kap Crozier gehen, um dort Eier des Kaiserpinguins einzusammeln. Unterstützt von Crean, sollte Barne schließlich eine Exkursion zu den Bergen antreten, die Scott im Vorjahr bei seinem Marsch Richtung Süden gesichtet hatte.
Dieses Mal standen die Vorbereitungen jedoch unter größerem Zeitdruck, weil Scott die Discovery um jeden Preis aus dem Eis befreien wollte, um nicht einen dritten Winter in der Antarktis verbringen zu müssen. So ordnete er an, dass die Exkursionen bis Mitte Dezember abgeschlossen sein mussten, damit sich jeder Einzelne auf die ungleich wichtigere Aufgabe konzentrieren konnte, die Discovery zu befreien.
Mitte September gehörte Crean zu einer von Barne angeführten Gruppe, die südöstlich der im Schelfeis gelegenen White Island Vorratsdepots anlegen wollte. Der Zeitpunkt war sehr früh gewählt und beschwor die Gefahr herauf, von widrigem Wetter überrascht zu werden. Tatsächlich sollten die Bedingungen schlechter werden, als es sich zuvor jemand hätte ausmalen können, und die Männer mussten viel erdulden.
Die sechs Männer – Barne, Leutnant Mulock (als Ersatz für Shackleton), Quartley, Smythe, Joyce und Crean – sahen sich Temperaturen von –40 °C ausgesetzt, kaum hatten sie das Schiff verlassen, und während sie die Schlitten übers Eis zogen, verschlechterte sich das Wetter weiter. Schnell wurde klar, dass die Lektionen des Vorjahres, die vor allem Scotts Trupp hatte schmerzlich lernen müssen, nur ein schaler Vorgeschmack gewesen waren.
Nun fielen die Temperaturen auf bis zu –60 °C. In seinem Tagebuch wies Scott darauf hin, dass nie zuvor das Überleben von Menschen von einem einfachen Zelt und einem schlichten Schlafsack abhängig gewesen war. Wie genau sich das grauenhafte Geschehen abspielte, berichtete er ebenfalls:
Als sie das Schiff verließen, lag die Temperatur unter –40 °C; als sie White Island erreichten, fiel sie auf –45 °C und schließlich bis auf –50 °C. Und auch dann war noch nicht Schluss, sie fiel und fiel, bis sie schließlich die Marke von –55 °C erreichte und unterschritt.
Bei exakt –55,4 °C zerbarst das Glasrohr mit dem Alkohol, das Thermometer war nicht zu reparieren. Wir werden daher nie erfahren, wie kalt es tatsächlich gewesen ist, aber Barne schwört, dass die Temperatur bis auf –60 °C gefallen ist.
Joyce war der Einzige, dem die Bedingungen empfindlich zusetzten. Nachdem er mehrfach Erfrierungen im Gesicht erlitten hatte, beschlossen die Männer, künftig nah beieinanderzubleiben. So mussten sie aus nächster Nähe beobachten, wie sein Gesicht weiß wie Schnee wurde. Die Folgen sind ihm zwar heute noch anzusehen, aber als es dazu kam, konnten sie ihm zunächst beispringen und die Durchblutung wieder in Gang bringen. Das Schlimmste stand ihm aber noch bevor, denn auf dem weiteren Weg äußerte er irgendwann gegenüber seinen Kameraden, dass er einen Fuß nicht mehr spürte. Nachdem rasch ein Zelt aufgestellt worden war, untersuchte Barne ihn und stellte fest, dass der Fuß bis zum Knöchel weiß angelaufen war. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis wieder Leben Einzug hielt, und auch das nur, weil die Offiziere es reihum übernahmen, den Fuß an ihrer Brust zu wärmen.
Alle Männer der Gruppe, selbst Joyce, der es besser wissen müsste, scheinen den Vorfall heute als großen Spaß zu betrachten. Ich fände es allerdings überhaupt nicht komisch, wenn mir die Füße erfrieren würden oder ich bei Temperaturen von –55 °C den Oberkörper frei machen müsste, um jemand anderem zu helfen. Dem Vernehmen nach hielten die, die das auf sich nahmen, es zehn Minuten lang aus, den Fuß an ihren Körper zu drücken, bis es Zeit wurde, sich ablösen zu lassen. Sie räumen auch ein, dass es kein angenehmes Gefühl war, behaupten aber, es habe vor allem ihren Appetit angeregt. Dank ihrer Fürsorge, so viel steht fest, konnte Joyce wohlbehalten und mit der vollen Anzahl an Zehen zum Schiff zurückkehren, und allein darauf kommt es letztlich an. 9
Zum Glück mussten die Männer nur acht Tage auf dem Schelfeis verbringen. Und doch war es ein erschütterndes Erlebnis gewesen und eine erneute Erinnerung an die Gefahren. Ungeachtet dessen begannen Crean und seine Kameraden schon wenige Tage nach der Rückkehr mit den Vorbereitungen für die nächste Exkursion, die gut 300 Kilometer weit in südlicher Richtung über das Ross-Schelfeis in das Gebiet führen sollte, das heute Barne Inlet heißt. Und auch auf dieser Tour sollte das Wetter, das Stürme aus Süd herantrug, denkbar unvorteilhaft sein.
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