Amundsen beherrschte den Umgang mit Schlittenhunden und Skiern, lange bevor er nach Antarktika aufbrach. Zu Hause in Norwegen und andernorts in der Arktis hatte er sich mit diesen Fortbewegungsarten und den Überlebenstechniken der Einheimischen vertraut gemacht.
Die intensive Vorbereitung hatte sich mehrfach ausgezahlt, und auf der erfolgreichen Expedition zum Südpol 1911 legten er und seine Begleiter bei optimalen Bedingungen bis zu 100 Kilometer am Tag zurück. Im Schnitt kam die norwegische Expedition am Tag 37 Kilometer voran, wohingegen die britischen Expeditionen unter Scott und Shackleton, die noch auf Menschenkraft setzten, ungleich langsamer waren: Bei ihnen galt eine zurückgelegte Strecke von 20 Kilometern als viel, 25 Kilometer als seltener Glücksfall.
Mitunter schafften die britischen Schlittengespanne des Goldenen Zeitalters trotz aller Anstrengungen gar nur fünf, sechs Kilometer am Tag. Dafür musste jeder der Männer über einen Zeitraum von zehn, zwölf Stunden bis zu einhundert Kilogramm ziehen, gelegentlich auch länger. Entsprechend erschöpft waren sie am Ende eines solchen Tages. Manchmal reichte die Kraft nur noch dafür, das Zelt aufzubauen und eine Mahlzeit zuzubereiten, nach der sie erschöpft in ihre Schlafsäcke krochen.
Amundsen und seine Hundegespanne hingegen legten meist nur Etappen von fünf Stunden zurück, was es ihnen erlaubte, mehr Pausen zu machen, und genügend Zeit ließ, sich auf Zwischenfälle einzustellen. Der Unterschied hinsichtlich der Arbeits- und Ruhezeiten zwischen Norwegern und Briten war in jedem Fall gewaltig.
Die Expedition, die mit dem Tod des Seemanns Bonner in Lyttelton denkbar schlecht begonnen hatte, wurde wenige Wochen nach der Ankunft in Antarktika von einer zweiten Tragödie heimgesucht, als sich eine harmlos anmutende Fahrt über das Eis zu einem albtraumhaften Martyrium entwickelte, das ein weiteres Menschenleben forderte – eine frühe und dringende Mahnung und Erinnerung an die eigene Verletzlichkeit.
Crean gehörte nicht zu jenen zwölf Männern, die im frühen März eine Exkursion über etwa sechzig Kilometer zum Kap Crozier unternehmen sollten, um dort, wo im Bedarfsfall eine Suchaktion starten würde, eine Nachricht mit der Position der Discovery zu hinterlegen. Der Preis für diese Briefbeförderung war hoch.
Die Gruppe, die sich auf den Weg zum Kap Crozier machte, teilte sich in zwei Parteien auf. Je sechs Männer zogen einen Schlitten, jeweils unterstützt von vier Hunden. Doch die Männer hatten nur sehr wenig Erfahrung auf dem Eis, und die Exkursion war ausgesprochen nachlässig vorbereitet worden. Scott äußerte sich später beschämt darüber, wie gedankenlos die Schlitten bepackt worden und wie unzureichend die Männer gekleidet gewesen waren.
Auch wenn das eindeutig in Scotts Verantwortung fiel, gelang es ihm, die Schuld an dem Vorfall, den es zur Folge haben sollte, auf elegante Weise von sich zu schieben, so wie jemand, der zwar das Feuer gelegt hat, aber das Haus nicht angezündet haben will. In dem Buch, das er nach seiner Rückkehr verfasste, gab er folgende Erklärung für den Vorfall:
Zu diesem Zeitpunkt war unsere Unwissenheit beklagenswert groß. Wir wussten nicht, wie viel Proviant für welchen Zeitraum angemessen war, wie die Kocher zu bedienen waren, wie wir die Zelte aufstellen mussten, ja, nicht einmal, wie wir uns anzuziehen hatten. Kein Bestandteil der Ausrüstung war von uns ausprobiert worden, und neben unserem Unwissen machte sich das Fehlen jeglichen methodischen Vorgehens besonders schmerzhaft bemerkbar. 2
Blind für das Wagnis, auf das sie sich einließ, machte sich die Gruppe am 4. März 1902 auf den Weg. Kurz nach dem Aufbruch wurden die Männer von einem Schneesturm überrascht, der ihnen jegliche Sicht nahm. Hinzu kamen Unerfahrenheit und fehlendes Wissen – in der Summe ein Gemisch, das tödliche Folgen haben sollte.
Obwohl die Zelte aufgebaut waren, bekamen es die Männer mit der Angst zu tun und reagierten panisch. Die meisten von ihnen waren zum ersten Mal in einer derartigen Situation, und statt sich in die Zelte zu verkriechen und zu warten, bis der Sturm sich ausgetobt hatte, beschlossen sie, kehrtzumachen und zu versuchen, sich zum Schiff durchzuschlagen. Zelte und Ausrüstung ließen sie zurück und irrten durch das Schneetreiben, bis sie sich an einem steilen, vereisten Abhang wiederfanden, der zu einer Klippe führte, die hoch über dem Eiswasser des Rossmeeres lag. Erst als sie schon den Abhang hinunterglitten, wurde ihnen klar, wie groß die Gefahr war, den Halt zu verlieren und über die Klippe und damit in den sicheren Tod zu stürzen.
George Vince, einem Matrosen, der Fellstiefel, aber weder Nagelsohlen noch moderne Steigeisen trug, geschah genau das. Er rutschte aus, an seinen verdutzten und ohnmächtigen Kameraden vorbei und über die Klippe in ein Grab aus Eis. Die anderen Männern konnten nur zusehen, wie er »hundert Meter tief senkrecht ins Meer fiel«. Sein Leichnam wurde nie gefunden.
Die Männer, verängstigter als zuvor und durch den Verlust des Kameraden zusätzlich verunsichert, irrten durch die Landschaft aus Eis, ohne dass irgendjemand wusste, wo sie waren und wie viele von ihnen noch lebten. Crean schloss sich dem Suchtrupp an, der losgeschickt wurde und schon nach kurzer Zeit auf Barne, Evans und Quartley stieß, die benommen und ziellos am Fuße des Castle Rock umherirrten. Am späten Abend kehrten Royds und einige andere Männer aus eigener Kraft zum Schiff zurück. Damit fehlten nur noch zwei: der Steward Clarence Hare und George Vince – der eine sicher, der andere vermutlich tot.
Für Scott war dies »einer unserer schwärzesten Tage«, und wie jeder andere am Hut Point ging er davon aus, dass Hare auf dieselbe Weise zu Tode gekommen war wie der unglückselige Vince. Doch um zehn Uhr am nächsten Vormittag tastete sich eine einzelne Gestalt den Abhang hinunter, der zum Schiff führte. Es war Hare, der fast sechsunddreißig Stunden im Freien verbracht und seit sechzig Stunden keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte. Er war orientierungslos herumgelaufen, bis er nicht mehr konnte, und hatte sich dann einfach in den Schnee gelegt, um zu schlafen. Wilson zufolge soll Scott bei Hares Ankunft geschaut haben, als käme ihm »der Tod persönlich« entgegen.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Hare großes Glück hatte. Doch auch die, die mit heiler Haut davongekommen waren, hatten auf nachdrückliche und schmerzhafte Weise lernen müssen, wie gefährlich der Aufenthalt in diesem Teil der Erde war, wie schnell das Wetter umschlagen und Tod und Vernichtung bringen konnte. Der Katastrophe waren sie nur denkbar knapp entgangen, aber mindestens die Hälfte der Männer hatte Frostbeulen und Erfrierungen erlitten.
Wild stellte lapidar fest, dass Evans »von Glück sagen« konnte, »dass ihm nicht die Ohren abgefroren waren«. Doch auch so war die Warnung angekommen. Zudem hatte der Vorfall extrem auf die Stimmung der Gruppe gedrückt, die laut Frank Plumley von einer »tiefen Niedergeschlagenheit« geprägt war.
Je weiter der Winter fortschritt, desto kälter wurde es, und am 23. April verschwand schließlich die Sonne für vier lange Monate. Bernacchi, der dieses Phänomen bereits kannte, bereitete der bisherige Verlauf der Expedition Kopfzerbrechen. Er schrieb:
Der Herbst geht zu Ende. Alle Versuche, uns mit Schlitten fortzubewegen, sind gescheitert. Essen, Kleidung – durchweg ungeeignet. Es gibt vieles, worüber sich nachzudenken lohnt, und vieles, was in der langen Winternacht verbessert werden kann. 3
Scott insistierte darauf, dass während des gesamten Aufenthaltes in Antarktika Wachroutine und Disziplin aufrechterhalten blieben, allen voran die strikte Trennung von Offizieren und Mannschaft, die, um ein Beispiel zu nennen, sogar zu unterschiedlichen Zeiten aßen. Die Engstirnigkeit ihres Vorgesetzten, insbesondere sein stures Festhalten an überkommenen Regeln und Vorschriften, irritierte die Männer, und Matrose Williamson berichtete von einem hohen Maß an Unzufriedenheit auf dem beengten Mannschaftsdeck. Steward Hare beklagte sich nur wenige Wochen nach seinem wundersamen Überleben in seinem Tagebuch über Eintönigkeit und schlechte Stimmung.
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