Duncan sah derweil Anlass, die Enge in den Mannschaftsquartieren zu beanstanden, und monierte, dass die Männer oft ohne ersichtlichen Grund zum Appell an Deck gerufen wurden, nur um dort frierend in der Kälte herumzustehen. An einer Stelle seines Tagebuches hieß es:
Wir mussten ausnahmslos zwei Stunden in der Kälte stehen (–23 °C), obwohl es stürmte. Man behandelt uns wie kleine Kinder. 4
Zu einem typischen Tagesablauf gehörte es, dass ein Teil der Männer früh aufstehen und Eisstücke heranschleppen musste, die zu Trinkwasser geschmolzen wurden. Um 8:30 Uhr wurde das Frühstück ausgegeben, die Hauptmahlzeit des Tages, die in der Regel mit einer Kelle Porridge und einem Klacks Sirup eröffnet wurde. Wer mochte, konnte auch Robbenleber bekommen, dazu selbst gebackenes Brot und eine klebrige Marmelade nach Belieben.
Die einfachen Seeleute aßen und schliefen alle gemeinsam auf dem engen Mannschaftsdeck, wo auch die Hängematten aufgespannt waren. Privatsphäre gab es nicht. Offiziere und Wissenschaftler hingegen hatten jeder eine eigene kleine Kabine, und die Mahlzeiten nahmen sie gemeinsam in der Offiziersmesse an einem Tisch aus Mahagoni ein, sie benutzten silbernes Besteck und tranken guten Wein. In einer Ecke des Raumes stand ein Klavier.
Nach dem Frühstück fand eine Andacht statt, dann wurden die Männer in Gruppen aufgeteilt und kümmerten sich um Reparaturen und Wartung von Schiff und Ausrüstung. Um 13 Uhr gab es Mittagessen, dazu wurde die tägliche Ration Rum und Tabak ausgeteilt. Zu den Aufgaben der Wissenschaftler gehörte es, sich um die zahlreichen Instrumente zu kümmern und meteorologische, magnetische und weitere Messungen vorzunehmen. Andere widmeten sich derweil ihren Fachgebieten Geologie, Biologie, Botanik und Physik. Schon um 17 Uhr wurde zum Abendessen gerufen, danach blieb Zeit für Geselligkeit und Spiele.
Das Mannschaftsdeck war rund um die Uhr in eine Rauchwolke eingehüllt, die von dem minderwertigen Grobschnitt-Tabak der Marine stammte, denn anders als die tradierten Regeln es vorschrieben, durften die Männer rauchen, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Crean, sein Leben lang Pfeifenraucher, war also in seinem Element, während sich einige Nichtraucher über die stickige Luft beschwerten.
Die Freizeit nutzten manche, um Briefe zu schreiben oder Tagebuch zu führen, andere zogen es vor, sich zu unterhalten oder in bester Marine-Tradition Seemannsgarn zu spinnen. Das geriet mitunter derart blumig, dass sich der Zeitraum, den die »aufregenden Abenteuer«, die Charles Clark, der Koch der Discovery , auf den sieben Weltmeeren erlebt haben wollte, auf geschätzte 590 Jahre summierte.
Dann und wann wurde die Eintönigkeit dadurch unterbrochen, dass einer der Wissenschaftler oder Offiziere einen Vortrag hielt, und manch ein Matrose verdiente sich ein paar Pennys dazu, indem er sich einmal pro Woche um die Wäsche eines Offiziers kümmerte, der sich zu fein war, selbst zu waschen. Sonntags wurde ein Gottesdienst abgehalten, doch da Crean Katholik war, musste er nicht daran teilnehmen, sondern durfte selbst entscheiden, wie er seinem Glauben nachging.
Die Männer durften sich auch im Freien aufhalten, wenn auch auf eigene Gefahr – es sei denn, die wissenschaftlichen Instrumente mussten abgelesen werden, was den ganzen Winter über fortgesetzt wurde. Die Kälte war abschreckend genug. Die größte Gefahr ging jedoch von dem Wind aus, der pausenlos wehte und, sobald er etwas stärker wurde, Unmengen von Schnee aufwirbelte, mit der Folge, dass die Männer »taub und blind« wurden, wie Bernacchi schrieb. Selbst in unmittelbarer Nähe des Schiffes oder der Hütte konnten sie die Orientierung verlieren und sich verlaufen.
Das größte Ereignis des gesamten Winters war der Tag der Wintersonnenwende. Die Männer begingen ihn wie ein Weihnachtsfest, nur ohne Religion, aber dafür mit, wie Bernacchi sich ausdrückte, »einem heidnischen Gelage«. Luftschlangen schmückten das Mannschaftsdeck und die Offiziersmesse. Dort wurde ein festliches Menü serviert, bestehend aus Schildkrötensuppe, neuseeländischem Lamm, Plumpudding und Pasteten. Dazu wurden Champagner und Portwein gereicht. Nur geringfügig anders geriet der Speiseplan der Mannschaft, auf dem Schildkrötensuppe (ein etwas weniger aufwendiges Rezept), Kochschinken, weiße Bohnen und Kartoffeln standen, gefolgt von Plumpudding mit Weinbrandsoße. Anschließend wurden Geschenke ausgetauscht, unter anderem für jedes Besatzungsmitglied eine kleine Aufmerksamkeit von Mrs. Royds, der Mutter von Leutnant Royds.
Mit großer Erleichterung nahmen die Männer zur Kenntnis, dass sich nach viermonatiger Dunkelheit am 22. August die Sonne erstmals wieder zeigte. Doch die Rückkehr des Tageslichts bedeutete auch, dass die Monate der Untätigkeit beendet waren und die eigentliche Arbeit der Expedition begann.
Scott plante mehrere Vorstöße in unbekanntes Terrain, die als Vorbereitung für sein Ansinnen dienen sollten, einen neuen Rekord aufzustellen und weiter nach Süden vorzudringen als je ein Mensch zuvor, ja, nach Möglichkeit sogar den Pol selbst in Angriff zu nehmen. Das war das eigentliche Anliegen der Expedition, obwohl zu diesem Zeitpunkt niemand sagen konnte, was sie jenseits der Eisbarriere und deren unmittelbarer Umgebung erwartete.
An zwei Bestleistungen, die bei diesen Vorstößen ins Landesinnere Antarktikas aufgestellt wurden, war auch Tom Crean beteiligt. Er gehörte zu der Gruppe, die Mitte November 1902 einen neuen »Süd-Rekord« aufstellte. Die zweite Premiere nimmt sich dagegen trivial aus: Er gehörte auch zu den ersten Menschen, die Weihnachten in einem Zelt auf dem antarktischen Eisschild verbrachten.
Zunächst gehörte Crean zu jenem Team, dessen Auftrag es war, die erste größere Expedition auf das Ross-Schelfeis vorzubereiten, die das Trio aus Scott, Wilson und Shackleton wagen wollte. Im Vorfeld sollten Helfer Vorratsdepots anlegen, aus denen sich die drei auf ihrer Rückkehr bedienen könnten.
Diese Helfer bildeten eine zwölfköpfige Gruppe, die, angeführt von Barne und begleitet von enthusiastischen Anfeuerungsrufen der Kameraden, am 30. Oktober aufbrach. Die Schlitten waren mit farbenfrohen Bannern und einem Union Jack bestückt. Eines der Banner ironisierte die Marotte der Briten, sich das Leben im Eis so schwer wie möglich zu machen. Die Inschrift lautete: »Bewerbung von Hunden unerwünscht«.
Scotts Männer treten den Versuch an, den Südpol zu erreichen. Tom Crean trägt den Union Jack, der mit der irischen Harfe versehen ist.
Der Schlitten, vor den Crean gespannt war, war leicht zu erkennen, denn er trug die irische Flagge. Barne beschrieb »das bunte Fahnenmeer«, das zum Abschied wehte, und erwähnte ausdrücklich »eine Flagge Irlands, die zum Obergefreiten Crean gehörte, ein grünes Tuch mit dem Union Jack in einer Ecke und einer goldenen Harfe im Zentrum«. 1Obwohl es ein rein englisches Unternehmen war, befand Crean es offenbar für nötig, seine Verbundenheit mit der Heimat zu dokumentieren.
Die Gruppe, die die Depots anlegen sollte, kehrte nach fünfunddreißig Tagen ins Lager zurück, brach jedoch am 20. Dezember erneut auf und verlebte das Weihnachtsfest auf dem Eis. Zuvor aber hatten die Männer manches erleiden müssen, um mit der eigenen Unerfahrenheit, der unzureichenden Ausrüstung und den Herausforderungen der ersten längeren Exkursion im Eis zurande zu kommen. Schließlich aber brachten sie die Mission erfolgreich zu Ende und waren zeitig genug zurück, um kurz vor Weihnachten erneut aufzubrechen.
Scott, Wilson und Shackleton machten sich am 2. November 1902 auf den Weg, und auch diese Gruppe wurde begeistert verabschiedet. Sie führte fünf schwer beladene Schlitten mit sich, die von neunzehn tatendurstigen Hunden gezogen wurden und mit Flaggen und Wimpeln geschmückt waren. Zusammen brachten sie 840 Kilogramm auf die Waage, der schwerste wog 200 Kilogramm, der leichteste immerhin noch 80. Ursprünglich hatte Scott geplant, bei der Querung des Schelfeises auf die Hundegespanne zu setzen, doch sehr schnell erwies sich, dass keiner der Männer recht wusste, wie er die Hunde bändigen und führen sollte. Und bis auf die Übungen zu Beginn des Winters hatte keiner nennenswerte Erfahrung auf Skiern vorzuweisen.
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