Um diese Exemplare zu schießen, musste ich es schaffen, mich von hinten schnorchelnd anzupirschen. Was nur gelang, wenn so ein großer Räuber hoch konzentriert vor einer größeren Korallenformation auf eine von ihm auserkorene Mahlzeit in einer Höhle ausharrte. Während der Barrakuda darauf wartete, blitzschnell zuzuschlagen und mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen seine Beute mit einem Biss ins Jenseits zu befördern, hatte ich just in diesen Momenten die Chance, auf zwei Meter an ihn heranzukommen. Wie beschrieben benötigte ich diese Distanz, um meine Beute mit dem Speer zu erreichen.
Natürlich versuchte ich, Fische stets so zu treffen, dass sie der Pfeil auf der Stelle tötete, was bei einem Barrakuda nicht nur mit Nächstenliebe, sondern mit Selbstschutz zu tun hatte. Die Zähne eines Barrakudas können komplette Muskelstränge aus den Gliedmaßen reißen oder schneller, als man reagieren kann, eine Hauptschlagader zerfetzen. Auch wenn es dementsprechende Gerüchte und Erzählungen gab, ich hatte kein einziges Mal erlebt, dass ein Barrakuda mich angegriffen hat. Am gefährlichsten war der Weg mit einem geschossenen, aber noch nicht toten Barrakuda zurück an mein Deck auf der Insel zu kommen. Der Raubfisch am Speer kämpft um sein Leben und zerfleischt alles, was in die Nähe seines Gebisses kommt. Die Kraft so eines Raubfisches lässt sich nur schwer beschreiben. Mit meinen 100 Kilogramm an Körpergewicht und 183 Zentimeter Körperlänge sollte man meinen, einem maximal zehn Kilogramm schweren Fisch mit einem halben Meter Länge weit überlegen zu sein. Aber ich war nun eben kein Fisch und er in seinem Element.
Meine anderen bevorzugten Fische waren ebenfalls Einzelgänger. Zum Beispiel die großen Amber Jacks oder manchmal auch die Bar Jacks. Üblicherweise standen jedoch Snapper auf der Insel-Speisekarte, kleine Raubfische, die nur etwa fünfzehn Zentimeter lang und völlig ungefährlich waren. Je nach Jahreszeit schoss ich auch sogenannte Schafsköpfe, die aufgrund ihrer schafsähnlichen Zähne so benannt sind. Diese runderen Fische besitzen viel Fleisch und sind eine Delikatesse. Ganz selten hatte ich die Chance, einen Hogfish zu schießen, welcher so ziemlich das bestschmeckende Fleisch des Ozeans zu bieten hat.
Was sich nach einem freien Buffet je nach Belieben anhörte, war in Realität harte Arbeit. Hunger war Teil meines Lebens. Und den hatte ich besonders in den ersten Wochen mehr, als mir lieb war. Ich ging zur falschen Zeit schnorcheln, traf nicht, mir rissen die Seile der Harpune und nach und nach auch die gespannten Gummis. Ebenso machte mir das Wetter immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Besonders die starken Aprilstürme mit ihren hohen Wellen machten das Speerfischen nahezu unmöglich. Man konnte sich an den scharfkantigen Korallenformationen schwer verletzen. Außerdem war die Sicht bei hohem Wellengang nahezu null, und ich sah einen Fisch erst, wenn er schon wieder auf der Flucht vor mir war.
Es gab auch einen Riff-Hai. Um welche Art es sich genau handelte, habe ich nie herausgefunden. Von anderen Fischern wurde er einfach als Riff-Hai bezeichnet. Dieser Geselle hatte selbstverständlich mehr Berechtigung, nach Fischen zu jagen, als ich. Und er war besonders zu Beginn furchteinflößend. Als dann Irvin, einer meiner Bekannten, von ihm angegriffen wurde, hatte ich wohl für mehrere Tage plötzlich keinen Hunger mehr.
Irvin lebte in Placencia und kam regelmäßig in die Nähe meines Platzes auf der Insel. Wie für die lokalen Speerfischer üblich, ging er nach dem Schießen eines Fisches nicht sofort aus dem Wasser, sondern fädelte diese auf einer Angelschnur, die am Körper befestigt war, auf. Dass ein Hai diese blutenden Fische als frei verfügbares Sushi-Buffet erster Klasse ansieht, versteht sich von selbst. Irvin wurde daher zur Zielscheibe des Hais und angegriffen. Zum Glück wurde er nicht verletzt und verjagte den Hai mit einem beherzten Schuss aus seiner Harpune. Der Speer einer Harpune dringt dabei nicht durch die dicke Haut des Hais, verschreckt den übermächtigen Gegner jedoch für eine Weile. Wobei der Angriff sogar den abgebrühten Irvin etwas aus der Ruhe brachte. Ich habe ihn danach für viele Wochen nicht mehr gesehen.
Aus diesem Grund war meine Methode des Speerfischens von Beginn an mit möglichst wenig Risiko verbunden. Ich brachte entweder jeden erlegten Fisch umgehend aus dem Wasser – was mit einigem Schwimmaufwand verbunden war – oder zog hinter mir eine schwimmende Kühlbox her. Die meiste Zeit reichte aber die „Schieße einen Fisch und komme wieder heraus“-Methode, denn es war ja nur der Hunger von Mali und mir zu stillen. Dazu reichte ein Fisch meist aus. Dies hielt mich fit und ließ mich bereits nach wenigen Wochen wie einen echten Inselbewohner aussehen. Meine von der tropischen Sonne geröstete Haut wurde zunehmend „karibisch“ gefärbt und meine braunen Haare erblondeten.
Auch wenn ich stets Geldsorgen im Kopf und öfter, als mir lieb war, Hunger hatte, kam mein Leben den ursprünglichen romantischen Vorstellungen vom Inselleben sehr nahe. Dem Paradies auf Erden konnte ich in Belize nie wieder so nahekommen wie in den unzähligen Stunden des Speerfischens. Die Lichtreflexionen unter Wasser waren je nach Sonnenstand pure Magie. Die Fächerkorallen in ihren Rot-, Blau- und Violett-Tönen strahlten und funkelten, wie es die beste Lichtshow nicht erreichen kann. Kombiniert mit der Ruhe unter Wasser stellte sich bei mir stets ein tranceartiger Zustand ein, und das meist ruhige und badewannenwarme Meer ließ mich im wahrsten Sinne des Wortes schweben.
In dieser Unterwasserwelt verschwanden stets der Hunger und ebenso die Sorgen, wie es weitergehen wird. In jeder Körperfaser war nichts anderes als Frieden und Ruhe zu spüren. Und ganz ehrlich gesagt, auch eine gewisse Portion Stolz. Ohne den Verbrauch von fossilen Brennstoffen für ein Boot, ohne Schießpulver, ohne jegliche Technik waren da nur mein Speer und ich. Keine langen Fischereiseile mit tausenden von Haken, die den Ozean leer fischten, keine Fallen, keine Käfige. Meine maritime „Steinschleuder“ allein war in der Lage, meinem Hund und mir den Bauch zu füllen. Und das Leben auf der Insel konnte dank dem ausschließlichen Gebrauch von Solarenergie und der Regenwasseraufbereitung nicht nachhaltiger sein.
Es ist wohl jener Lebensstil, der der Erde am wenigsten schadet und der nur ganz wenigen Menschen aufgrund der vielen Hürden vorbehalten ist. Und dieses Leben durfte ich genießen, während den Menschen die pandemiebedingte Decke auf den Kopf fiel.
Isoliert betrachtet war ich im Paradies. Ohne Zweifel. Wären da nicht noch böse Überraschungen gekommen.
Mein erster Barrakuda
Von der Pandemie in die Pleite
Ich hatte mir also tatsächlich auf meiner Insel in Belize das Paradies geschaffen. So wie ich es mir erträumt hatte. Es war einer der romantischsten und sichersten Plätze auf unserem Globus. Es war aber nicht der Garten Eden. Man konnte dort eine Pandemie aussitzen, aber es blieben so schnöde weltliche Notwendigkeiten wie das Bezahlen mit Geld.
Belize ist, obwohl – oder gerade weil – es sich um ein Entwicklungsland handelt, um vieles teurer als die meisten europäischen Länder oder auch das benachbarte Mexiko. Mein Insel-Internet, das wie beschrieben mit einer Satellitenschüssel funktionierte, kostete mich satte 220 Euro pro Monat. Es gab günstigere Lösungen, aber diese hatten sich für gut zahlende Gäste als unbrauchbar herausgestellt.
In der ersten Zeit meiner Vermietung versuchte ich die Internetverbindung über einen kleinen mobilen Receiver herzustellen, doch die Verbindung riss ständig ab. In Summe war der Datenverbrauch meiner Gäste so teuer, dass die Lösung mit der Satellitenschüssel die günstigere Alternative war. Und nachdem ich nicht genau wusste, wann ich wieder Gäste haben würde, wollte ich nicht riskieren, erneut Monate auf eine Neuinstallation der Satellitenschüssel zu warten. Denn bei einer Abmeldung wäre sie sofort abgebaut und bei einem anderen Kunden wieder aufgebaut worden.
Читать дальше