Die Solaranlage des Gästehauses produzierte deutlich mehr Strom als notwendig. Sie war auf vier Personen und zwei Klimaanlagen ausgelegt. Anstatt also die Solartechnik für das neue Haus zu kaufen, konzentrierte ich mich auf die Küche, das Bad und die Wasserversorgung. Ich erwarb mit meinem verbliebenen Geld einen Kühlschrank und einen Gasherd. Ich wählte nur Geräte, die sich im Gästehaus bewährt hatten.
Die Lösung des Problems der Hauptversorgung lag in zwei Kabeln: einem Stromkabel, das mein neues Haus mit der Solaranlage des Gästehauses verband, und einem Internetkabel, um in meinem privaten Haus meinen WLAN-Router anschließen zu können.
Im Jahr 2018 hatte ich das Gästehaus massiv aufgerüstet. Über eine Satellitenschüssel, die auf eine andere Schüssel auf dem Festland ausgerichtet war, hatte ich eine High-Speed-Internet-Verbindung auf die Insel gezaubert. Es gab in Belize keine vernünftige WLAN-Verstärkertechnik. So entschied ich mich, ein hochwertiges LAN-Kabel zu verwenden, um das extrem teure Insel-Internet auch im neuen Haus nutzen zu können. Denn eines war klar: Ganz allein hier draußen würde es bei aller Romantik ohne Internet sehr schnell langweilig werden.
Ich liebte es, abends auf Netflix alte „Friends“-Folgen anzusehen oder quer durch die Star-Trek-Universen mit Warp Speed zu reisen. Ebenso fesselten mich neuere Serien, wie „Lucifer“ oder „The Good Place“. Die beiden letztgenannten Serien ließen mich über meine Lebensweise nachdenken. Ob ich bisher ein guter Mensch war und wie es mir wohl nach dem Tod ergehen würde, wenn es ein „danach“ gäbe. Würde ich in den „good place“ oder den „bad place“ kommen? Würde Lucifer mich für die Ewigkeit in meiner eigenen Hölle gefangen halten? Und wenn ja, was wären denn meine Fehler, die ich mir selbst nicht verzeihen könnte und immer wieder von Neuem durchleben müsste? Wäre meine Hölle, mich immer und immer wieder ein letztes Mal von meinen Kindern zu verabschieden, bevor ich nach Belize ausgewandert war?
Aus meiner Sicht gibt es zwar keine weitere Existenz oder ein Bewusstsein nach dem Tod, dennoch waren es interessante Gedankenspiele für einen auf einer Insel einsam lebenden Menschen, der die Welt willentlich hinter sich gelassen hat. Ich hatte mich auch schon auf dem Festland so gut es ging zurückgezogen, ging abends nie fort und selbst tagsüber in kein Restaurant. Ich mied Menschen wie der Teufel das Weihwasser. Tagsüber war ich mit Mali am Strand und abends gemütlich vor dem Fernseher. Das war mein Leben auf dem Festland.
Auf der Insel sollte es nicht viel anders sein. Die TV-Serien beamten mich psychologisch aus meiner gewollten Einsamkeit und gaben mir das Gefühl von Familie und Freundeskreis. Ich weiß, das klingt absurd. Aber ganz allein mitten im Meer, da kann es am Abend schon ganz schön spooky werden. Und selbst tagsüber hörte ich über das Internet zunehmend den österreichischen Sender Hitradio Ö3, um mich weniger fern der Heimat zu fühlen. Die Musik und der Flimmerkasten waren meine Seelenstreichler und mit ihnen waren die manchmal etwas gruseligen Abende leichter zu bewältigen. Wie nahe mir jene verlorenen Seelen noch kommen sollten, für die Lucifer ein entsprechendes Programm im Seniorenheim der Sünder hat, das konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen.
Um die umfangreiche mediale Ablenkung genießen zu können, benötigte ich aber die besagte Stromverbindung und das Internet. Also begann ich zu buddeln. Ich verlegte die beiden Kabeln in einen hundert Meter langen Graben unter die Erde. Erde ist zu viel gesagt. Lark Caye, die große Inselkette, auf der sich mein Grundstück befand, ist eine Koralleninsel mit Jahrtausende altem Korallenbruch. Das Graben bei 35 Grad im Schatten dauerte eine Woche, und ich hatte von Hitzschlag über Muskelkater bis hin zu medikationsbedürftigen Rückenschmerzen alle vorstellbaren und nicht vorstellbaren Zustände. Das war für meine 46 Jahre zu erwarten, gleichzeitig war es aber auch eine Wohltat, mich wieder richtig körperlich zu betätigen.
Am Festland gab es für mich außer den Aktivitäten mit Mali und der Koordination meiner Gäste nichts zu tun, aber auf meiner Insel wartete nun unendlich viel körperliche Arbeit auf mich. Und von vielem, was mich noch überraschen sollte, hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung. Was die elektrischen Leitungen betraf, hatte ich beim Bau des Gästehauses mein Lehrgeld bezahlt. Normalerweise geht man davon aus, dass beim Einsatz zertifizierter Elektriker eigentlich alles korrekt ablaufen sollte. Aber zu meinem Erstaunen durfte ich beim Bau des ersten Hauses den – sagen wir mal ganz anderen – Arbeitsstil der lokalen Elektriker kennenlernen. Die Belizianer waren verdammt schnell, aber es gab im Nachhinein ständig irgendwo Kurzschlüsse, und manchmal kassierte man auch einen Stromschlag. Dementsprechend zog ich ein Jahr später Chris zur Hilfe, einem Ein- beziehungsweise Auswanderer und Elektriker aus England. Er verkabelte mir beim Gästehaus alles neu.
Belizianer schließen die Erdleitung und die passive Leitung des 110-Volt-Wechselstromkreises einfach zusammen. Eine Verkabelungstechnik, die mitunter lebensgefährlich ist. Was im schlimmsten Fall den aus alten TV-Serien bekannten „Tod mit Haarföhn in der Badewanne“ zur Folge hat. Auch wenn es in meinem Haus keine Badewanne, sondern nur eine Dusche gab.
Daher hatte ich bei meinem neuen Haus von Anfang an Chris die Planung und Umsetzung der Elektroleitungen übertragen. Er musste aufgrund meiner Vorarbeiten nur ein einziges Mal auf die Insel kommen, um mein verbuddeltes Kabel an den Sicherungskasten des neuen Hauses anzuschließen.
Nun war dieses Kabel zwar an mein Haus angeschlossen, aber ohne eigenem Solarsystem im neuen Haus mussten wir uns einer Notlösung bedienen. Ich ging nur von wenigen Wochen ohne eigener Solaranlage aus, bis ich nach dem Ende der Pandemie wieder ein Einkommen haben sollte. Und so wurde das andere Ende des Hauptversorgungs-Stromkabels, nun doch etwas belizianisch und auf meinen Wunsch, dreißig Zentimeter über dem sandigen Boden mit einem ganz normalen Stecker in eine Steckdose des Gästehauses gesteckt. Nicht etwa im Inneren der Lodge, sondern in meinem „Technikraum“. Dieser lag mehr oder weniger im Freien. Der Boden wurde regelmäßig überflutet und war nur durch Wände aus Pressholz-Platten geschützt. Klingt wild, die Technik darin hatte aber in drei Jahren keine Anzeichen von Rost gezeigt, was man von Geräten im Freien nicht behaupten konnte. Der Stecker wurde in die Steckdose gesteckt und zack: Mein gesamtes neues Haus wurde zum Leben erweckt. Alle LED-Lampen funktionierten einwandfrei, die Klimaanlage brummte los und der Wasserdruck war dank der bereits von mir vorverkabelten Wasserpumpe hergestellt. Super.
Alle Stromabnehmer zusammen würden nicht mehr als 20 Ampere benötigen. Die Steckdose, an der das Kabel angeschlossen wurde, war ebenfalls mit 20 Ampere abgesichert. Falls das 40-Ampere-Kabel abbrennen würde, sollte nichts passieren und die Sicherung im Gästehaus fallen. Es müsste schon ein Hurrikan kommen und meinen Technikraum unter Wasser setzen, um ein Problem zu bekommen, aber in meinen vier Jahren hatte ich noch keinen einzigen erlebt. Und es war ja nur eine kurzfristige Notlösung.
Hunger war Teil meines Lebens
In meiner Prioritätenliste zum Überleben standen die technischen Herausforderungen nur an zweiter Stelle. Das Wichtigste war die Nahrungssuche. Sie stand an oberster Stelle. In den letzten Jahren hatte ich nur ganz selten meine Harpune zum sogenannten Speerfischen ausprobiert.
Eigentlich war ich immer gegen die Verwendung von Harpunen, weil sie mich viel zu sehr an ein Gewehr erinnern. Als vehementer Waffengegner leistete ich aus Überzeugung meinen Wehrdienst als Zivildiener im Asylbereich statt beim Militär ab. Es war für mich undenkbar, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen und eine Schusswaffe abzufeuern. Allerdings hatte ich bei einem Besuch meiner Kinder in Belize eine Harpune gekauft, da mein jüngerer Sohn Kimi ganz wild darauf war, in echtem Inselstil durch Speerfischen sein Essen zu fangen.
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