»Das ist bei ihm ein Dauerzustand«, lachte Oliver.
»Aber er sieht auch schon deutlich rundlicher aus als vor zwei Wochen, als wir ihn aus dem Tierheim holten«, lobte Carolin den kleinen Kater. »Komm, du Süßer, ich geb dir etwas in deinen Napf, damit du bald groß und stark wirst!«
Als sie sich wieder zu ihren Freunden gesetzt hatte, fragte Mario: »Wie geht es dir? Bist du noch immer so erledigt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, langsam gewöhne ich mich daran. Ich nutze die Mittagspause jetzt bewusst zum Entspannen, und bin dann auch noch bei den letzten Patienten des Tages fit.« Bis vor Kurzem hatte sie nur halbtags als Assistentin eines Tierarztes gearbeitet. Obwohl sie ihren Job liebte, war ihr die Umstellung anfangs schwergefallen, nach einer zweistündigen Pause auch noch am Nachmittag in der Praxis zu stehen.
»Für mich ist es ungewohnt, nach der Arbeit in eine leere Wohnung zu kommen«, merkte Sonja an.
»Vor allem, weil niemand da ist, der dich bekocht, nehme ich an«, neckte Carolin. Ihre Freundin widersprach nicht.
»Ja, das auch. Jetzt wird mir erst bewusst, wie sehr ich verwöhnt wurde. Aber ich bin ja bereits dabei, das zu ändern.« Sie griff hinter sich auf das Board. »Seht mal. Meine neue Bibel.«
»Lecker und schnell. Kochen für Anfänger«, las Oliver den Titel laut vor. »Das klingt gut. Schon etwas ausprobiert?«
»Ja, einiges. Die Pasta mit Thunfisch und Gemüse war echt lecker, oder?«, wandte sie sich Beifall heischend an Carolin.
»Sag jetzt ja nichts Falsches«, warnte Mario sie zwinkernd.
»Es war wirklich gut, da brauche ich gar nichts zu beschönigen. Und außerdem sehr angenehm, mich nach einem langen Tag nur noch an den Tisch zu setzen.« Sie lächelte ihrer Freundin zu. »Du bist eine tolle Mitbewohnerin!«
»Du könntest es dir doch mal ausleihen«, schlug Mario seinem Freund vor, der interessiert in dem Kochbuch blätterte. »Ich hätte auch nichts dagegen, wenn du mal den Küchendienst übernehmen würdest.«
»Oh, echt?«, fragte Oliver überrascht zurück. »Du hast noch nie was gesagt. Oder doch, und ich habe es ignoriert?«
»Du bist bisher allem, was nur irgendwie mit dem Kochen zu tun hat, so vehement ausgewichen, dass ich es mir verkniffen habe. Ich koche ja gerne, aber gerade jetzt, wenn ich in der Klinik den ganzen Tag auf den Beinen bin, wäre es schon fein, wenn du das mal übernehmen würdest.«
Die beiden Frauen verfolgten das Gespräch amüsiert. »Ihr klingt wie ein altes Ehepaar.« Sonja grinste.
»Immerhin leben wir schon seit fünf Jahren gemeinsam hier und es passt gut. Wir haben Arbeitsteilung. Ich putze, er kocht«, meinte Oliver zufrieden. »Wir sind ja ohnehin fast jeden Abend zu Hause.«
»Das kenne ich von meinem Bruder ganz anders«, stellte Sonja fest, der schon aufgefallen war, dass Mario das Studium sehr viel ernster nahm. Fast immer hatte er ein Fachbuch in Reichweite.
»Ich will so schnell wie möglich fertig werden. Es dauert mir ohnehin schon fast zu lange.«
»Obwohl du wahnsinnig fleißig bist und fast jede Prüfung beim ersten Mal schaffst«, stellte Oliver anerkennend fest. »Das muss dir erst einmal jemand nachmachen!«
Spontan legte Sonja ihre Hand auf seine Schulter und drückte sie leicht. »Ich finde es toll, dass du so ehrgeizig bist! Ich konnte mich gleich gar nicht aufraffen, zur Uni zu gehen, und Tom hängt schon ewig in seinem Maschinenbau-Studium herum und es ist kein Ende in Sicht. Papa wird langsam ungeduldig.«
Mario konnte ihren Worten beinahe nicht folgen, so sehr lenkten ihn die Gefühle ab, die ihre Hand bei ihm hervorrief. Seine Konzentration wanderte zu den wenigen Quadratzentimetern, wo ihre Wärme durch sein Shirt drang, und beinahe hätte er vor Wohlgefühl die Augen geschlossen. Dann fing er sich wieder und beugte sich nach vorne, um nach seinem Glas zu greifen. Dabei verloren sie den Kontakt und gleichzeitig fand er auch seinen Verstand wieder. Er richtete die Aufmerksamkeit darauf, wie der fruchtige Rotwein durch seine Kehle rann. ›Nur nichts anmerken lassen‹, hämmerte es in seinem Kopf, während sich auch eine gewisse untere Körperregion langsam wieder entspannte, die sich spontan mit Blut gefüllt hatte. Obwohl es ihm beinahe Angst machte, wie heftig er auf ihre Nähe reagierte, konnte er sich nicht dazu überwinden, mehr Distanz zwischen sich und Sonja zu bringen. Wenigstens diese von ihrer Seite ganz unbefangenen Kontakte durfte er heimlich genießen, auch wenn es ein bittersüßes Gefühl war, das schon an Masochismus grenzte. Was half es, von einer Frau zu träumen, die unerreichbar war? Mario zwang sich dazu, wieder dem Gespräch der anderen zu folgen, das sich mittlerweile um Carolins Auto drehte. Der alte Kombi machte beim Bremsen seltsame Geräusche und Oliver bestand darauf, damit in die Werkstatt seines Vaters zu fahren.
»Es wäre leichtsinnig, damit zu warten. Bis du wieder Geld auf dem Konto hast, ist vielleicht noch mehr kaputt oder du hast sogar einen Unfall. Ich strecke dir das Geld für Ersatzteile vor, wenn du welche brauchst. Papa soll sich den Wagen ansehen, damit ich wieder ruhig schlafen kann.«
Obwohl es ihr unangenehm war, von Oliver Geld anzunehmen, sah Carolin doch ein, dass er recht hatte. »Okay, danke. Soll ich mitkommen, oder willst du lieber allein fahren?«
»Du kannst gerne dabei sein. Papa freut sich, dich zu sehen, und ich werde mit ihm vereinbaren, dass wir erst nach den Öffnungszeiten kommen.«
»Das ist eine gute Idee. Dann begleite ich dich gerne!« Sie lächelte erleichtert.
Keiner von beiden hatte Lust, Olivers älterem Halbbruder zu begegnen, der ebenfalls in der Werkstatt arbeitete. Kevin kannte keine Skrupel und hatte ihm einmal die Freundin ausgespannt. Auch Carolin hatte er bereits angebaggert. Auf eine Wiederholung konnten sie gerne verzichten.
»Was macht ihr am Wochenende?«, wechselte Sonja das Thema. »Ich wette, etwas Interessanteres als ich.«
»Wir werden einfach nur ausspannen. Und du?«, erkundigte sich Carolin.
»Ich muss heim zu meinen Eltern. Mama hat für Samstagabend mal wieder eine ihrer berühmt-berüchtigten Cocktailpartys angesetzt. Eine stinklangweilige Angelegenheit, bei der Tom und ich Anwesenheitspflicht haben. Ich wette, sie hat wieder potenzielle Heiratskandidaten für uns eingeladen.« Sie verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, während es Mario einen Stich gab.
»Ich bin am Sonntag bei meinen Eltern zum Mittagessen eingeladen«, berichtete er. Oliver nickte.
»Ja, genau, da leihst du dir ja mein Auto.« Die Freunde nickten sich zu. »Dann werden wir wohl den Sonntag zu Hause verbringen.« Er küsste Carolin zärtlich auf den Hals und es war allen klar, was er mit ihr vorhatte.
Sonja strich sich die offenen Haare hinter die Ohren und straffte den Rücken, nachdem sie aus ihrem kleinen roten Smart gestiegen war. Ihr graute vor dem Nachmittag und dem darauffolgenden Abend. Während ihre Mutter bei solchen Cocktailpartys in ihrem Element war und sie in vollen Zügen genoss, fehlte ihr dieses Gen offenbar. Leider hatte sie auch nicht die Geduld, die ihr Vater und ihr Bruder bei solchen Gelegenheiten an den Tag legten. Es war ihr schlichtweg zuwider, mit Leuten, die sie nicht kannte und mit denen sie nichts verband, Small Talk zu betreiben. Es gab vieles, was sie lieber getan hätte: Mit Carolin und ihren Nachbarn ins Kino zu gehen, wäre ganz oben auf der Liste gestanden, aber auch andere Tätigkeiten hätte sie diesem gesellschaftlichen Ereignis vorgezogen. Schmunzelnd fragte sie sich, was ihre Mutter dazu sagen würde, wenn sie wüsste, dass sie lieber im Tierheim die Katzenklos putzen würde, in dem sie ehrenamtlich arbeitete, als hier die Rolle der wohlerzogenen Tochter aus gutem Hause einzunehmen. Sie hätte selbst niemals für möglich gehalten, wie viel Befriedigung es ihr verschaffte, die Tiere zu versorgen, ihnen ein paar Streicheleinheiten zukommen zu lassen und dem hoffnungslos überlasteten Personal zur Hand zu gehen. Die Hunde mochte sie, aber die vielen heimatlosen, oft verängstigten, verwahrlosten oder einfach nach Liebe hungernden Katzen hatten es ihr besonders angetan. Am liebsten hätte sie alle mit nach Hause genommen, aber Tiger und Kitty betrachteten die kleine Wohnung, in der sie seit Kurzem mit Carolin lebte, als ihr Revier und hätten mit weiteren Mitbewohnern vermutlich wenig Freude.
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