— Mamà, schau mal, wer gekommen ist, Vittorio. Erinnerst du dich an Vittorio?
Spotorno ging rasch auf sie zu, beugte sich hinab für einen Kuss auf die kalten Wangen, und ein leichter Kampfergeruch stieg ihm in die Nase.
Unruhig ruckelte Signora Rosa einen Moment hin und her und sagte dann mit zittriger, dünner Altfrauenstimme:
— Vittorio, Vittorio, auch du bist hier und hast dich an Sasà erinnert.
Dann fischte sie aus ihrem Gedächtnis den Beruf, den Spotorno ausübte.
— Du hast gesehen, wie sie ihn zugerichtet haben, meinen armen Sasà. Mich haben sie ihn nicht sehen lassen wollen.
Spotorno nickte. Ihm lag auf der Zunge zu sagen, dass Rosario nicht gelitten und diese Welt verlassen hat, ohne zu begreifen, was überhaupt geschah, aber es erschien ihm respektlos gegenüber dem Andenken des Verstorbenen. Rosario hatte es im Übrigen nie gemocht, wenn man ihn Sasà nannte, zumindest als er ein junger Bursche war, und nur seiner Mutter war dies überhaupt erlaubt.
— Setz dich neben mich, Vittorio, und leiste mir ein wenig Gesellschaft.
Eine Frau mittleren Alters erhob sich, um ihm ihren Stuhl zu überlassen, und nahm Platz auf einer Truhe, die gegen die Wand gelehnt stand. Auf der anderen Seite neben Signora Rosa saß eine zweite Frau, die wie ihre Zwillingsschwester aussah, obwohl sie nicht einmal miteinander verwandt waren.
Das waren die Signorine.
Spotorno hatte noch nie gehört, dass sie anders als so und immer im Plural genannt worden wären, auch wenn er wusste, dass die eine Grazia und die andere Nunzia hieß. Sie arbeiteten schon ewig für Signora Rosa, als junge Mädchen hatten ihre Mütter sie ihr anvertraut, damit sie das Schneiderhandwerk erlernten. Und das taten sie so gut, dass die Signora sie fest eingestellt hatte.
Spotorno begrüßte auch die Signorine mit Wangenkuss. Als er seinen Platz eingenommen hatte, ließ er den Blick durch den Raum schweifen, um seinem Gedächtnis die Exaktheit der Erinnerung zu versichern. Einige Dinge hatten sich verändert, seit er damals in Begleitung seiner Mutter hier gewesen war. Die zwei pedalbetriebenen Singer mit der goldenen Aufschrift auf dem schwarzen Leib waren durch zwei moderne elektrische Nähmaschinen ersetzt worden, von denen Spotorno nicht einmal den Markennamen entziffern konnte. Die üblichen Nähutensilien waren geblieben: Stoffstücke, Restzuschnitte, Knöpfe, Nadeln, Scheren, Fingerhüte, Schneiderkreide.
Vergeblich suchte er nach den hölzernen Fadenspulen, deren rasante Drehung auf dem Spulenzapf der alten Singer ihn als Kind so sehr gefesselt hatte. Der Anblick der losen Schneiderkreiden rief hingegen ein seltsames Gefühl von Unvergänglichkeit hervor: Sie waren flach, in der Farbe von antikem Elfenbein und ähnelten in ihrer Form den kleinen Seifen für den Einmalgebrauch, wie man sie, in Zellophan verpackt, in Hotels vorfindet. Seit er denken konnte, waren sie so. Auch die Wandtapeten mit dem kleinen Rosenmuster auf beigem Untergrund schienen nicht mehr erneuert worden zu sein, unter der Decke hatten sie sich an manchen Stellen vom Putz gelöst, der durch eindringende Feuchtigkeit aufgequollen war. Über einer Stuhllehne hing ein abgegriffenes Maßband, mit einer Einkerbung neben der Achtundsechzig.
Es war dasselbe Maßband wie eh und je, es sei denn, alle Maßbänder von Signora Rosa waren aus irgendeinem geheimnisvollen Grund besonders in der Nähe des Zentimeters achtundsechzig abgewetzt. In der Mitte der Wand gegenüber den Balkonen hing das Holzkreuz mit den Intarsien in Form kleiner Herzen längs der Vertikalachse und den Elfenbeineinsätzen an den Enden der Kreuzbalken.
Spotorno sammelte Erinnerungen mit derselben Ausdauer, wie gewisse Müßiggänger Hobbys sammeln.
Signora Rosa bemerkte seinen Blick:
— Erinnerst du dich noch, Vittorio, wie du mit deiner Mutter hergekommen bist? Grazia hat für dich immer Ines al forno *gekauft. Magst du die heute noch? Sie hatte eine glückliche Hand, deine Mutter, und konnte bei Russo Pedone in der Via Sant’Agostino gewisse Stoffreste auftreiben … Bei deinem Vater habe ich nur ein einziges Mal Maß genommen, dann hat man ihn hier nicht mehr gesehen. Trotzdem gelangen die Hemden für ihn immer auf Anhieb, nie gab es einen Fehler oder etwas nachzubessern. Mit Ersatzstutzen und Austauschkragen. Größe Vierzig. Die hielten ein Leben. Inzwischen gibt es unter uns nur noch wenige, die solche Hemden schneidern. Heute kaufen die Leute die von der Stange, die mit Nylonfaden genäht sind. Und auch gewisse Maßhemdenschneider verwenden jetzt Nylon. Weißt du, wie viel Baumwollfaden man braucht, um ein Hemd zu nähen?
Spotorno wusste es nicht.
— Angefangen beim Reihen über Probe und Gegenprobe braucht es gut und gerne eine Fadenrolle, also neunzig Meter Garn. Allein für die Knöpfe gehen fünf Meter drauf. Aber ich verwende keine Neunzig-Meter-Rollen mehr, ich nehme die großen, die sind viel praktischer. Weißt du, was mich da eine Rolle kostet?
Spotorno räumte ein, dass er über die aktuellen Preise des Baumwollgarns nicht auf dem Laufenden war.
— Ich zahle viertausend Lire dafür, und das ist nicht einmal der Großhandelspreis. Marke Tre Cerchi Oro der Firma Cucirini e Cantoni, das ist das beste. Um die Wahrheit zu sagen, anstelle von Cantoni steht da jetzt ein ausländischer Name, aber ich bin einfach noch an den alten Firmennamen gewöhnt.
Spotorno sah im Geiste den goldenen, in einem Sonnenstrahl tanzenden Staub im Esszimmer der Via Venezia vor sich, während im Radio eine Männerstimme – eine schöne, ernste Stimme, von der man sich keine banalen Nachrichten erwartete – die Börsennotierungen der Mailänder Börse vorlas:
… Magneti Marelli … Edison … Cucirini e Cantoni ging es ihm ungeordnet durch den Sinn.
Einen ganzen Sommer lang fiel das Verlesen der Börsennotierungen mit dem Eintreffen des Sonnenstrahls und dem goldenen, unfassbaren, tanzenden Staub zusammen. Es war die Zeit des Wirtschaftswunders.
Signora Rosa fuhr in ihrem Quasi-Monolog fort:
— Auf eine Garnrolle wickeln sie tausend Yard, das ist eine englische Maßeinheit, die neunzig Zentimetern gleichkommt. Auf einer solchen Rolle steckt also fast ein Kilometer Garn. Eine Garnrolle reicht für zehn Hemden. Rechne es dir aus: Für ein nach allen Regeln der Kunst genähtes Hemd gehen mehr oder weniger vierhundert Lire an Baumwollgarn drauf. Der Nylonfaden wird etwas weniger kosten. Also, ich frage mich: Was soll das? Um hundert, zweihundert Lire zu sparen, geht einer her und näht die Hemden mit Nylonfaden, der sich dann beim ersten Bügeln kräuselt, hart wird, ins Fleisch sticht und am Hals rote Pusteln hinterlässt? Und was sind schon hundert Lire Ersparnis, wenn einer dreißig-, vierzig- und sogar bis zu sechzigtausend Lire allein fürs Nähen eines Hemdes verlangt? Die Knöpfe noch gar nicht mit eingerechnet. Weißt du, wie viele Knöpfe in einem einzigen Hemd stecken?
Spotorno war ins Schwitzen gekommen. Er fragte sich, ob der Höhepunkt dieser pathologischen Reaktion bereits überschritten wäre. Maddalena war hinter den Stuhl der Mutter getreten und machte ihm ein Zeichen, das er als ermutigende Aufforderung deutete, ihr gegenüber noch ein wenig nachsichtig zu sein, das Spiel mitzuspielen. Den Schmerz einzudämmen, zumindest noch für eine kleine Weile. Die Tragödie aus den Gedanken der alten Dame fernzuhalten. Einen Raum der Rücksichtnahme, ein emotionales Polster zu schaffen. Die Signora ließ mit ihrer Antwort nicht auf sich warten:
— Für ein fachgerecht geschneidertes Hemd braucht es mindestens zehn Knöpfe. Ich verwende nur Perlmuttknöpfe. Die anderen haben jetzt alle mit denen aus Kunststoff angefangen.
Sie griff nach einer Schachtel vor sich auf dem kleinen Tisch und entnahm ihr einen Knopf:
— Siehst du dieses Viereck zwischen den Löchern, durch die der Faden läuft? Das ist die Stelle, an der die Plastikknöpfe brechen, und du hast dann nicht nur den Knopf in der Hand, sondern du musst auch den Faden auftrennen, der schon am Stoff festgenäht ist. Mit den Perlmuttknöpfen kann dir das nicht passieren. Im Höchstfall geht der Knopf ab, weil der Faden reißt. In der Tat, für einen Knopf wie diesen bezahlst du dreihundert Lire, während einer aus Kunststoff nur fünfzig kostet. Das macht eine Differenz von zweitausendfünfhundert Lire pro Hemd. Aber diese Halsabschneider, die Maßhemden mit Kunststoffknöpfen fertigen, die verkaufen dir das Hemd deshalb nicht um zweitausendfünfhundert Lire billiger. Die lassen dich denselben Preis bezahlen, ob mit richtigen Knöpfen oder welchen aus Kunststoff.
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