Zeugen hatten von einem schweren Motorrad gesprochen, das wenige Minuten vor dem Überfall an der Kreuzung zwischen Via degli Emiri und Via Damasco gestanden hatte. Aber niemand hatte auf zwei unauffällig gekleidete Männer mit Motorradhelm auf dem Kopf geachtet. Die Kreuzung schien der ideale Platz für einen Überfall zu sein: Die Autos mussten hier vor dem Abbiegen stoppen, die Häuser waren dank breiter Straßen recht weit voneinander entfernt, und im Übrigen war die Sicht durch Bäume verstellt.
Die Zeugen, ein Universitätsdozent mittleren Alters und seine Frau, hatten vom Balkon ihrer Wohnung geschaut. Sie behaupteten, vor der Schießerei wieder hineingegangen zu sein. Was hieß, sie wussten keine Einzelheiten. Die Ermittler erwarteten sich auch keine: Sie lagen ohnehin bereits über dem Durchschnitt, was die Zahl der Zeugen bei Ereignissen dieser Art anging.
Spotorno ertappte sich dabei, wie er sich im Büro umsah, als suchte er nach etwas, das seinen Verbleib dort unumgänglich machte. Dafür gab es eine Unmenge Gründe, das wusste er nur allzu gut. Papierkram, der in Normalzeiten die Aufopferung eines Sommersonntags – in Gedanken immer bei den Kindern, die unter fortgesetztem Mangel an väterlicher Zuwendung litten – gerechtfertigt hätte, und natürlich erst recht am Tag nach einem Mafia-Doppelmord. Aber er wusste auch, dass er in Wirklichkeit nach einem Alibi suchte, um den Besuch bei Signora Rosa zu umgehen.
Schließlich gab er sich einen Ruck. Eine halbe Stunde Trauerbesuch, dachte er, dann hätte er seine Pflicht getan.
Er passierte wieder das Großraumbüro und warf Puleo einen Blick zu. Ohne den Doppelmord und mit einer Verlobten in der Nähe und nicht im siebenhundert Kilometer entfernten Torre del Greco wäre Puleo an einem Vormittag wie diesem sicher nicht so lange in den Büroräumen der Mordkommission geblieben, zumal es sein freier Tag war.
Neben der Tastatur lauerte ein einschüchternder Wälzer mit dem Titel Handbuch des Konkursrechts . Der Polizeiobermeister widmete sich ihm mit Begeisterungsschwüngen, die oft ins Stocken gerieten wie ein Schwimmender inmitten eines Teppichs aus Braunalgen. Inzwischen fehlten ihm nur noch wenige Prüfungen, und zu Beginn des neuen akademischen Jahres sollte er eigentlich auch das Thema für seine Abschlussarbeit erfahren. Er wollte jedoch lieber nicht zu viel Gas geben, um seinen guten Notendurchschnitt nicht zu gefährden, den er trotz der harten, verantwortungsvollen Arbeit bei der Mordkommission hatte halten können. Zumal es ihm bisher gelungen war, seinen beruflichen Ehrgeiz nicht in Übereifer ausarten zu lassen.
Spotorno, wie jeder tüchtige Bulle mit gesunden Prinzipien, misstraute dem Eifer; er hielt große Stücke auf den jungen Mann, den er oft mit herzlicher Ruppigkeit behandelte. Als Puleo zur Polizei kam, hatte er nur einen Mittelschulabschluss vorzuweisen. Innerhalb von drei Jahren holte er dann als Externer seine Fachhochschulreife nach. Und zu gegebener Zeit, Spotorno hatte da keine Zweifel, würde das juristische Staatsexamen folgen. Und weiß der Himmel, ob Puleo danach seine Karriere im Polizeidienst fortsetzen oder lieber den großen Sprung wagen und sich irgendwo in der Nähe seines Zuhauses als Praktikant einer Anwaltskanzlei verdingen würde. Spotorno glaubte nicht ohne Grund, dass die Zukunft des jungen Mannes fast gänzlich in den unbekannten Händen der zukünftigen Signora Puleo lag.
— Save’, warum drehst du nicht eine schöne Runde? Oder besser noch, schnapp dir die Badehose, fahr nach Mondello und geh ein paar Meter schwimmen; lass es gut sein für heute mit deinem Buch, schlepp es nicht unnötig mit dir herum. Heute Abend schaust du dir noch einen schönen Film im Arena an, und morgen fühlst du dich wie neugeboren. Wenn ich könnte, würde ich es genauso machen …
Er ging nicht davon aus, dass Puleo seinen Rat befolgen würde. Vielmehr würde er sich in seine Miniwohnung in der Nähe vom Corso Pisani begeben, die er mit zwei Kollegen teilte, und lernen, bis ihm der Kopf rauchte.
Draußen blieb Spotorno einen Moment lang neben seinem weißen Fiat 131 stehen, den er mühsam in Schuss hielt, unentschieden, ob er einsteigen oder zu Fuß gehen sollte. Die Sonne knallte ihm auf den Schädel, aber im Auto würde es noch schlimmer sein, denn er hatte keinen Parkplatz im Schatten gefunden. Der Anblick des üppig blühenden Parks der Villa Bonanno gab den Ausschlag. Das war seiner Meinung nach der schönste Platz der Stadt, besonders bei diesem Licht. Und wenn man bedachte, dass die Stadtplaner einmal wer weiß wie auf die Schnapsidee gekommen waren, die sehr hohen Palmen und die großen Platanen ausreißen zu wollen, um einen kahlen, einsamen Waffenplatz daraus zu machen. Dennoch beschloss er, nicht durch den Park zu gehen, sondern die schattigen Gassen vorzuziehen.
Er passierte die Fassade mit der leeren Rosette, das einzige Überbleibsel der Kirche Sant’Annunziata dello Scutino, halbverborgen von einer jungen Großblättrigen Feige, die sich da illegal eingenistet hatte und früher oder später ihr Werk vollbringen und auch die wenigen verbliebenen Mauerreste zum Einsturz bringen würde. Weiter überquerte er die Piazza San Giovanni Decollato, ging unter dem Torbogen jenseits des Palazzo Sclafani hindurch und bog in die Via dei Biscottari ein, wo er unmittelbar das Tempo drosselte. Jetzt bewegte er sich mit der Gemächlichkeit eines Kreuzfahrtdampfers voran, die niemand aus seinem Büro bei ihm für möglich gehalten hätte. Für gewöhnlich legte Spotorno den typischen Schritt eines Bullen an den Tag, der Hindernisse nicht umgeht, sondern sie überrennt. Von Zeit zu Zeit aber gönnte er sich eine Pause. Die Sandsteinplatten, mit denen die Gassen in den Quattro Mandamenti, den vier Altstadtbezirken Palermos, gepflastert sind, schienen wie geschaffen für Entschleunigung und kontemplatives Spazieren, getragen vom Rhythmus der auf Stein schlagenden Absätze. Er schüttelte den Gedanken ab, dass diese Verlangsamung heute nichts weiter als die Verlängerung des Reflexes eines ganzen Vormittags sein könnte, nämlich den Moment des Trauerbesuchs hinauszuschieben. Nein, dachte er, es ist purer Genuss.
Sein Weg führte ihn durch die Via Puglia und über die Piazza Santa Chiara hinweg. Die Zahl der sudanesischen, nigerianischen, ghanaischen, ivorischen, mauretanischen, senegalesischen und kapverdischen Familien in diesem Viertel wuchs beständig. Sie hatten sich vor einigen Jahren in den von Einheimischen verlassenen, heruntergekommenen Häusern niedergelassen und zahlten dafür oft Wuchermieten. Die Nordafrikaner konzentrierten sich vor allem auf die Gegend unterhalb der Via Maqueda, im Bezirk Tribunali-Castellammare. Ein Teil der Sri Lanker verteilte sich rings um den Borgo Vecchio, ein anderer Teil in der Gegend der Poliklinik oder im Umkreis der Zisa.
Durch den weitgeöffneten Laden einer ebenerdigen Behausung fiel sein Blick auf einen Schwarzen in weißem Kaftan, der Anstalten machte, einem anderen Schwarzen, der ebenfalls in weißem Kaftan auf einem zerfledderten Barbierstuhl saß, die Haare zu schneiden.
Dieses Bild sorgte bei ihm unerklärlicherweise für ein Gute-Laune-Kribbeln unter der Haut. Er legte einen Schritt zu. Jetzt konnte er es kaum erwarten, das zu erledigen, was er mit einem Anflug von schlechtem Gewissen innerlich zur »Angelegenheit Brancato« erklärt hatte.
Er bog auf die Salita Raffadali ab, ging bis zur Chiesa del Gesù hinunter und weiter auf der Via del Ponticello. Die Frangipani reckten in voller Blüte und nach Licht dürstend ihre schlängelnden Zweige von den Balkonen zur Straßenmitte hin. Spotorno erhaschte eine fallende Blüte und sog ihren noch immer kräftigen Duft ein. Nur wenige Personen waren unterwegs, vorwiegend Männer, die allermeisten Schwarze.
Vor allem deswegen bemerkte er die Frau. Sie stach ins Auge wie die weiße Flagge der Kapitulation vor dem niedergebrannten Hintergrund der gefallenen Festung. Spotorno kam der Anfang eines alten Gedichts über die Lippen:
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