Hoch lebe Venedig, grausam und stolz …
Er strengte seine grauen Zellen an, konnte aber nur noch weitere zwei Zeilen aus der Versenkung holen:
… die Pest wütet, es mangelt an Brot,
auf der Brücke, da weht die weiße Flagge.
Bianca – weiß – war die Vokabel, die in einem freien Assoziationsspiel im Geiste derer aufblühen würde, die dieser Frau begegneten. Sie hatte den weißesten Teint, der Spotorno jemals begegnet war. Zu diesem Weiß hatte sich noch eine zusätzliche Blässe gesellt, möglicherweise das Ergebnis einer heftigen Emotion, die die Frau nur mühsam zu beherrschen schien. Ihre Augen waren so gerötet, als hätte sie gerade sämtliche, ihr zur Verfügung stehenden Tränen geweint.
Spotorno hatte das deshalb feststellen können, weil die Frau aus einem der Häuser in der Via del Ponticello heraus direkt auf ihn zu kam und sich ihre Wege kreuzten, bevor sie in einen nachtblauen Lancia Y 10einstieg. Aus der Nähe und dank des pechschwarzen glatten und bis auf die Schulter reichenden Haars und ihrer eher schlichten Kleidung leuchtete das reine Weiß noch mehr. Sie war gewiss keine Schönheit. Ihre Figur war etwas eckig, als wäre sie bereits mehrfache Mutter, und ihre Gesichtszüge hätten bei einem oberflächlichen Blick als nichtssagend gelten können. Amalia wiederum hätte sie ganz sicher als interessant bezeichnet.
Die Frau fuhr los und hinterließ bei Spotorno das Echo einer verhaltenen und doch unbefriedigten Neugier. Er schätzte sie auf etwa fünfunddreißig. Für ihn war es fast wie ein Reflex: Sämtliche Anomalien wurden in seinem Polizistenhirn sofort klassifiziert und archiviert.
Nach der Via Maqueda bog er in die Via Calderai ab, die wie verwaist war – ein völlig ungewohnter Anblick. Die Handwerkerläden waren alle geschlossen, bis auf einen, der Särge verkaufte. Im Vorbeigehen nahm er im Innern etwa ein Dutzend Särge von unterschiedlicher Machart und Größe wahr, die da nebeneinander aufgereiht und übereinander gestapelt standen. Zwei Exemplare waren sogar vor der Ladentür ausgestellt, direkt auf dem Asphalt, der als Resultat einer missverstandenen Modernisierung den alten Straßenbelag überdeckte.
Zu Zeiten des Gymnasiums hatte er sich ausgiebig philosophischen Spekulationen hingegeben und war seither dauerhaft immun gegenüber missbräuchlich eingesetzten allegorischen Konstrukten, für die die Intellektuellen von seiner Insel ein solches Faible zu haben schienen. Also ging er bedenkenlos weiter und beschränkte sich auf ein paar verhaltene Beschwörungen, letzte Reste einer glühenden, jugendlichen Bewunderung für Benedetto Croce. Der Philosoph hatte behauptet, er glaube nicht an den bösen Blick … aber man könne ja nie wissen.
Signora Rosa Brancato Alamia hatte Wohnung und Geschäft in der Via Zara. Es war ein unauffälliges Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert, mit schönen hohen Räumen. Seit Spotorno die Familie Brancato Alamia kannte, wohnte sie hier, mit Ausnahme der Sommermonate; dann mieteten sie sich ein Haus in den alten Fischerorten an der Ostküste. Vororte, die der Vergangenheit angehörten, vereinnahmt von der Stadt im Expansionsrausch und mit einer Küste, die seit Jahrzehnten nur noch eine riesige plattgewalzte Erdfläche war, die auf bessere Zeiten hoffte.
In einem dieser Ferienmonate hatte Vittorio die Geschwister Rosario und Maddalena sowie ihre Eltern kennengelernt. Als Maddalena später dann erkrankte und der Arzt ihr einen ausgedehnten Aufenthalt in Meeresnähe verordnete, waren die Brancato Alamia für ein paar Jahre in eine kleine Villa an der Küste umgezogen. Und Rosario war Vittorios Banknachbar geworden.
Die Familie Spotorno hatte, abgesehen von der kurzen Unterbrechung in Norditalien, während Vittorios Kindheit immer in einem dieser Vororte gewohnt. Dann waren sie in die Stadt, in das Haus in der Via Venezia umgezogen.
Das Portal des Hauses der Brancato Alamia stand sperrangelweit offen, und Spotorno bemerkte beim Eintreten sofort das mit einem schwarzen Tuch bedeckte Tischchen samt des darauf aufgeschlagenen Kondolenzbuches. Bis zu diesem Moment waren es nicht mehr als zwölf Unterschriften, die von den Trauerbesuchern zum Nachweis einer erfüllten Pflicht sorgfältig gesetzt worden waren. Er steuerte seine Unterschrift bei, wobei er wie immer mit dem Stift auf dem V verweilte und fast das Papier durchbohrt hätte.
Niemand war da, aber es war wohl überflüssig, seinen Besuch per Gegensprechanlage anzukündigen. Er ersparte sich den altersschwachen Fahrstuhl und nahm die Treppe. Auch die Wohnungstür im zweiten Stock war weit geöffnet. Das grelle Licht von draußen hatte sich bereits im Atrium des Hauses in einen feinkörnigen Halbschatten verwandelt. Der Wohnungseingang lag fast im Dunkeln. Eine Trauerwache bei Tag und ohne den Toten, dachte Spotorno. Der Leichnam war noch nicht freigegeben und der Familie überlassen worden, er musste sich in diesem Moment auf dem Marmortisch der Gerichtsmedizin befinden.
Er war unschlüssig, ob er leise anklopfen oder einfach in den kleinen finsteren Vorraum treten sollte. Da spürte er, mehr als dass er hörte, den leichten Schritt einer Person, die sich der Wohnungstür näherte, und so wartete er ab. Im schwachen Licht des Vorzimmers wirkte Maddalena, seit dem letzten Mal, da Spotorno sie gesehen hatte, kaum verändert. Ihre Silhouette war ein wenig breiter geworden, und erst als sie die Wandbeleuchtung anschaltete und ihr Gesicht dem von Spotorno für den Kuss auf beide Wangen näherte, bemerkte er, dass das natürliche Rot ihrer Haare matter geworden war und einen leichten Braunstich bekommen hatte. Das Licht offenbarte außerdem ein kleines Netz feinster Falten um den Mund und die Augen, die geschwollen, aber nicht gerötet waren.
Die Tränen mussten ihr bereits am Vortag ausgegangen sein, dachte Spotorno, doch kaum hatten diese Worte in seinem Kopf Gestalt angenommen, bedachte sie ihn, als könne sie Gedanken lesen, plötzlich mit einem tränenfeuchten Blick.
Auch Maddalena hatte ihn auf Anhieb wiedererkannt und schien ob seines Kommens nicht überrascht. Spotorno hatte beinahe das Gefühl, erwartet zu werden. Es verwirrte ihn, als sie seine Hand nahm und ihn in den großen Wohnraum führte, in dem sich tagsüber das Leben von Signora Rosa abspielte.
Als sie noch Kinder waren, hatten sie einander noch nicht einmal flüchtig berührt.
Auch das Wohnzimmer lag im Halbschatten, wegen der angelehnten Fensterläden und ihren nur halb geöffneten Lamellen, durch die das Licht gefiltert durch dünne, beigefarbene, ihm wohlbekannte Vorhänge eindrang. Signora Rosa saß auf einem Stuhl mit Sitz aus Wiener Geflecht und gerader Rückenlehne. Sie war wie immer. Spotorno hätte alles im Voraus beschreiben können. Aber es war nicht die wiedergefundene Vertrautheit der Szenerie, die bei ihm ein Schwindelgefühl hervorrief. Vielmehr hatte er beim Betreten des Raumes das Gefühl, einen Fuß in ein Gemälde gesetzt zu haben: Signora Rosa sah im Gegenlicht aus wie die Mutter, die Umberto Boccioni einst portraitiert hatte. Amalia hatte einmal eine Postkarte mit diesem Bild bekommen, und Spotorno hatte sie lange als Lesezeichen benutzt.
Signora Rosas Hände lagen ineinander verflochten in ihrem Schoß, genau wie bei der Dame auf dem Gemälde, und wie diese hatte sie dünnes, fast weißes Haar, das in feinen losen Strähnen ihr Gesicht umrahmte, während ihre Kleidung in einem warmen Braun schimmerte. Auch die Beschaffenheit des Lichts war identisch und hüllte alles in einen matten, zarten Schleier, der ihre Silhouette verdunkelte.
Der flüchtige Eindruck verflog, sobald sich Spotornos Augen an die milchige Helligkeit des Zimmers gewöhnt hatten. Was er eben noch für ein Braun gehalten hatte, entpuppte sich nun als das verblichene Schwarz der Trauergewänder. Maddalena ließ seine Hand los und schob ihn mit einem sanften Druck in Richtung der alten Frau.
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